Der Buchtipp von Manja Wittmann
Eine verheiratete Frau, eine Autorin, eine namenlose Ich-Erzählerin berichtet von einem schon lang zurückliegenden Schreibstipendium in einer Künstlerkolonie nördlich von New York. Neben anderen Autoren und Autorinnen begegnet sie dort dem gar nicht sonderlich attraktiven ‚Katalanen’ und beginnt ohne viele Worte eine leidenschaftliche Liaison mit ihm.
Verlorene Kindheitsorte
Ihr damaliges Schreibprojekt ist eine Geschichte aus ihrer Kindheit. Sie ist am Stettiner Haff nahe der polnischen Grenze in einer Militärsiedlung aufgewachsen. Dort hatte sie als 10-Jährige auf ihrem Schulweg wundersame Begegnungen mit einem melancholischen, vom Dienst freigestellten Soldaten. Sie unterhielten sich über das Leben, sie vertraute ihm an, dass sie Schriftstellerin werden wollte und er ermunterte sie: „Man muss wild danach sein. Wild nach einem wilden Traum.“ Fast täglich sahen sie sich, bis die Familie wegziehen musste.
Die Erzählung bleibt unvollendet, die Autorin kehrt über New York wieder in ihr altes Leben zurück. Die berufliche Karriere beginnt, ihre Kinder werden geboren, die Ehe hält. Erst Jahre später erinnert sie sich an diesen Soldaten und auch an den Katalanen. War letzterer vielleicht eine Einladung, das Leben zu verändern? Hat sie hier an einer Weggabelung gestanden, ohne es zu merken? „Ich glaube, ich habe in meinem Leben nie vor Kreuzungen gestanden und in aller Ruhe überlegt. Ich bin einfach weiter und weiter gegangen, vielleicht sogar gerast, wie ich auch in die Liebe gerast bin, und irgendwann später dreht man sich um und ist erstaunt.“
Fiktion und Wirklichkeit
Ihre abenteuerliche Art lässt sie im oft eingefahrenen Alltagsleben immer wieder nach Erlebnissen suchen. „Es ist mir immer kläglich, ja geradezu fahrlässig vorgekommen, etwas nicht zu tun… Die erinnerungswürdigen Momente meines Lebens sind die, in denen ich in einem glücklichen Irrtum gelebt habe.“ Es vergehen viele Jahre, bis es wieder zu einer Begegnung mit dem Katalanen kommt. Natürlich wird hier nichts Weiteres verraten.
Das erzählerische Ich und die echte Autorin sind nicht einfach auseinanderzuhalten und es ist manchmal unklar, wann sie identisch sind. Offenbar gibt es viele biografische Ähnlichkeiten und Eckpunkte, die übereinstimmen. Wo aber die Phantasie beginnt, das bleibt ihr Geheimnis.
Die Autorin spielt gekonnt mit den verschiedenen Zeitebenen. Sie schaut sich mit Abstand quasi selber beim Leben und besonders beim Schreiben zu. Das aber in einer ganz gelassenen, fast stoischen, oft humorvollen Art. Sie packt auch große Themen an wie ihre lang anhaltenden Zweifel am Autorinnen-Dasein, die Liebe an sich oder Fragen zur Zugehörigkeit. Sie reflektiert darüber, was es bedeutet, in einem Staat aufgewachsen zu sein, den es nicht mehr gibt. Was zeigt sie den eigenen Kindern als ihre Herkunft, wenn selbst die Garnisonsstadt inzwischen verschwunden ist? Wie diese Löcher der Vergangenheit stopfen? „Manchmal, und je älter ich werde, denke ich sogar, ich stamme in Wahrheit von nichts und niemandem ab, ich komme aus keinem Land, gehöre zu keinem Menschen.“
Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, hat mit diesem gerade erschienenen Roman ihre autofiktionale Trilogie „Biografie einer Frau“ beendet. Die beiden Vorgängerromane „Das Vorkommnis“ und „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ waren literarische Bestseller, und die Fangemeinde wächst stetig. Man kann aber ebenso jeden einzelnen Band unabhängig von den anderen lesen und sich an den Gedanken, den wahren und erfundenen Geschichten dieser Ausnahmeautorin erfreuen.
Julia Schoch „Wild nach einem wilden Traum – Biografie einer Frau“ von Julia Schoch erschienen bei dtv, Hardcover mit 173 Seiten kosten 23,00 Euro
Manja Wittmann ist Bücher-Lotsin des Kulturkompass-MV und wird uns in alle möglichen Himmelsrichtungen literarischer Neuerscheinungen führen. Sie ist Buchhändlerin in München. Manja hat lange in der Film-und Fernsehbranche gearbeitet und wird uns beim Kulturkompass-MV auf ihre literarischen Favoriten hinweisen und spannende Sachbücher empfehlen. Sie kommt aus Schleswig-Holstein und da wundert es nicht, dass der Schwerpunkt auf Büchern liegt, die mit dem Meer zu tun haben oder von nord- bzw. ostdeutschen Autor*innen stammen.