von Wolfgang Kowalsky
1. Die einsame Entscheidung des US-amerikanischen Präsidenten, sich als Kandidat aus dem Rennen zu nehmen und die Präsidentschaftskandidatur auf seine Vize zu übertragen, die noch nie einen Wahlkampf gewinnen musste, hat für einen holprigen Start gesorgt. Niemand hat widersprochen und dafür gesorgt, dass der Parteitag der Demokratischen Partei die geeigneteste Person auswählt.
2. Obama betonte zunächst, er sei zuversichtlich, dass „ein herausragender Kandidat“ gefunden werde. Doch die Kandidatenkür wurde auf dem Parteitag wie eine bloße Formalie behandelt. Umgehend behaupteten zahlreiche Umfragen einen Vorsprung für Harris, bis der Umschwung eintrat, die Phase der Unsicherheit einsetzte und ein Kopf-an-Kopf-Rennen vorausgesagt wurde. Die großflächige Verbreitung der – wie sich herausstellte: inkorrekten – Umfrageergebnisse hat mit zum Wahlausgang beigetragen, da Trump dies nutzen konnte, die eigenen Anhänger zu mobilisieren. Sowohl die Demokratische Partei als auch die Medien müssen sich fragen lassen, welchen Anteil sie am Wahlsieg Trumps haben.
3. Die Medien haben aus Trumps Reden nur die abstrusesten Aussagen herausgegriffen und darauf fokussiert, sie auseinanderzunehmen. Nirgends fand sich eine inhaltliche Zusammenfassung der – aus der Sicht der Zuhörerinnen und Zuhörer – wichtigsten Redepunkte. Was die Wählerinnen und Wähler überzeugt haben mag, bleibt somit völlig unklar. Niemand kann sich erklären, warum sie so und nicht anders gewählt haben.
4. Das hegemoniale Anti-Trump-Stimmungsbild der tonangebenden Medien war moralisch aufgeladen und lief darauf hinaus, die Trump-Unterstützer:innen als inkompetente, minderbemittelte Leute darzustellen, denen gegenüber sich die Leserschaft weit überlegen fühlen konnte: Leser:innen hatten den Durchblick, standen auf der Seite der „Guten“ gegen die „Bösen“. Eigentlich konnte doch nichts schiefgehen.
5. Warum lief es trotzdem schief? Ein verbreiteter simplistischer Erklärungsversuch läuft darauf hinaus zu behaupten, die Wählerschaft habe plötzlich misogyne, homophobe, rassistische, xenophobe, faschistische (etc.) Statements unterstützt. Im Dunkeln bleiben die Ursachen für diesen Stimmungsumschwung: War es eine ideologische „Gehirnwäsche“, befördert von Trump und den ihm gewogenen sozialen Medien, unterstützt durch Trolle aus Russland? Jedenfalls liegen die Ursachen bei den anderen, eventuell sogar bei „dunklen Mächten“.
6. Den Höhepunkt der Anti-Trump-Kampagne bildete die Aussage, Trump sei ein Faschist – wobei zu berücksichtigen ist, dass in den USA nicht nur der Colt locker sitzt, sondern auch der Faschismusbegriff gern zur Denunziation des Gegners benutzt wird. Niemand hat nachgefragt, was die Kriterien zur Bestimmung von Faschismus sind. Doch diese Zuschreibung hat einen – intendierten oder nicht intendierten – Nebeneffekt: Implizit wurden die Wählerinnen und Wähler gleich mit als Faschisten abgestempelt. Der Fehler der „deplorables“ wurde in verschärfter Form wiederholt. Zur Erinnerung Clinton: „You could put half of Trump’s supporters into what I call the basket of deplorables.“ Die mediale Blase war – wieder einmal – so in sich ruhend, so fern jeglicher Selbstanalyse oder Selbstkritik, dass niemand nachfragte, ob diese herabsetzende Etikettierung nicht wieder nach hinten losgehen könnte.
7. Diese eifernde Anti-Trump-Stimmungsmache, die über eine ‚normale‘ politische Bekämpfung des Gegners hinausreicht, hat in ihrer Umkehrung dazu beigetragen, dass viele Wähler:innen es „denen“ mal zeigen wollten.
8. Zudem blieb bis zum Ende unscharf, wofür die Demokratische Kandidatin eigentlich steht – außer ein Biden-weiter-so, das offensichtlich nicht genügte, um massenhaften Zuspruch zu generieren. Der Fokus auf identitäre und Genderfragen hat offenbar die soziale und ökonomische Frage überlagert. Zu viele Themen – Gaza, Ukraine, Klima – wären am liebsten unter den Tisch gekehrt worden.
9. Nun reibt sich die Welt verdutzt die Augen. Insbesondere die Europäische Union steht vor der Herausforderung, sich als eigenständiger, autonomer Akteur zu behaupten in einer multipolaren Welt. Die Chancen stehen leider nicht gut – viele der Herausforderungen hatte der französische Staatspräsident in seinen Europareden benannt. Berlin antwortete mit skandalösem Schweigen. Mittlerweile hat sich der französische Staatspräsident selbst diskreditiert durch undurchdachte, unabgesprochene Schachzüge und Manöver. Zu viele Fragen bleiben offen. Zu viele Strategien undurchdacht.
10. Leider springt bislang niemand in die Bresche. Von der Europäischen Kommission ist wenig zu erwarten. Die wenigen herausragenden Persönlichkeiten (Timmermans, Breton, Vestager etc.), so umstritten sie gewesen sein mögen, haben das schwankende Schiff verlassen. Genauso wenig vom alles absegnenden Europäischen Parlament, das sich mit Vorliebe als oberste moralische Instanz aufspielt, statt dazu mit Verve beizutragen, dass Europa ein globaler Akteur wird.
Jedes europäische Land ist gefordert und an erster Stelle die großen. Ein erster Schritt in die richtige Richtung war, dass der Kanzler den dauernörgelnden Finanzminister entlassen hat, der nur eine Herausforderung kennt: sparen. Leider fehlt in seiner Rede die europäische Komponente, die eigentlich unverzichtbar ist.