Ungarisches Stimmengewirr 

Wie steht es um die Presse- und Redefreiheit am Ende der EU-Ratspräsidentschaft?

von Susanne Scherrer

Budapest im November. Feuchter Nebel liegt über der Stadt. Vom gegenüberliegenden Donauufer sind nur verschwommene Konturen zu erkennen. Die Straßen sind weniger belebt als sonst. Bei Temperaturen von knapp über Null Grad bleiben die Terrassen der Straßencafés leer. Die Touristen sind fort, aber die Cafés sind gut gefüllt, die Scheiben von innen beschlagen. Die kleine Metro zum Heldenplatz tutet wie immer warnend vor Abfahrt, die Türen schließen krachend, die Wagen setzen sich ratternd in Bewegung. Eine sonore Stimme kündigt die nächste Station an, am Deák-Platz, der zentralen Umsteigestation im Zentrum, auch auf Englisch.

Mit Einbruch des Winters geht die EU-Ratspräsidentschaft des Landes zu Ende. „Make Europe Great Again“ lautete der wenig originelle, aber beziehungsreiche Slogan der ungarischen Ratspräsidentschaft. Wie steht es aktuell um die Presse- und Redefreiheit in Ungarns illiberaler Demokratie unter Viktor Orbán? Gibt es überhaupt noch freie Medien? Ungarns Ruf ist ziemlich ruiniert. Nicht nur Human Rights Watch kritisiert die staatlichen Medieneinschränkungen als Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit.1

Freiheitsbrücke über die Donau (Foto: bubbiomarco, Pixabay) (Budapest-Panorama Titelbild, Foto: Andrea Piacquadio, Pexels)

Ungarns Pressefreiheit im internationalen Vergleich „problematisch“

Bester Indikator zur Messung von Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Kontrolle ist der von Transparency International erhobene Korruptionsindex. Beim weltweiten Vergleich befindet sich Ungarns Wert seit Jahren im Sinkflug. Im Jahr 2023 liegt Ungarn auf Platz 76 – und damit an allerletzter Stelle der EU-Mitgliedstaaten.2 Deutschland gehört mit dem 9. Platz weiterhin zur Spitzengruppe.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Ungarn im Jahr 2024 nur noch auf Platz 67 von 180 Ländern. Die Lage stuft „Reporter ohne Grenzen“ als „problematisch“ ein3. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und Ungarns einzige Nachrichtenagentur MTI wurden seit Viktor Orbáns Regierungsantritt 2010 in der staatlichen Medienholding MTVA zentralisiert. Die regionale Presse, die die Bürger*innen auf dem Lande informieren soll, ist seit Sommer 2017 vollständig im Besitz Orbán-freundlicher Unternehmer4

Im Dezember 2023 beschloss die Orbán-Regierung mit ihrer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit das Gesetz „zum Schutz der nationalen Souveränität“. Damit wird „ausländische Einmischung“ in Ungarns Politik und Gesellschaft unter Strafe gestellt, überwacht von einer neu zu schaffenden Behörde mit umfangreichen Befugnissen. Verfolgt wird „jeder Akt der Desinformation, der darauf abzielt, die demokratische Debatte und die gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse des Staates zu beeinflussen“. 5Davon sind vor allem Journalist*innen betroffen.

Raffinierter als rohe Gewaltanwendung

Um die Kontrolle über das gesprochene und geschriebene Wort zu behalten, bedarf es also gar keiner direkten Unterdrückung oder gewaltsamer Verfolgung von unabhängigen Journalist*innen. Man schüchtert sie ein bisschen ein, indem man einer Regierungsbehörde freie Hand bei der Auslegung des „Sourveränitätsgesetzes“ lässt. Oder man untergräbt ihre ökonomische Existenz.  Sie finden einfach keine Jobs mehr in den Orbán-nahen Medien. Alternativ erteilen die Behörden keine Frequenzen oder Lizenzen zum Betrieb eigener Medien. 

Über die zersetzenden Effekte der sich unendlich wiederholenden Parolen der Orbán-Propagandamaschine auf die mentale Verfasstheit der Bevölkerung ließen sich Spalten füllen. Mit Anti-EU-, Anti-Migration-, Anti-Opposition- und Anti-Genderemanzipation-Parolen werden Ressentiments geschürt und einzelne Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufgehetzt. Viktor Orbán versteht sich selbst als einziger Friedensstifter in der EU. Die Kampfparole zu den Europa-Wahlen im Juni 2024 lautete: „Brüssel erobern! No migration, no gender, no war!“ Diese Rhetorik zielt darauf ab, Orbáns Position als Verteidiger ungarischer Interessen gegen vermeintliche äußere Bedrohungen zu festigen und gleichzeitig innenpolitische Gegner zu diskreditieren. 

Eine Nachrichtendosis Koffein am Morgen

Es wäre jedoch falsch zu behaupten, dass die ungarischen Medien gleichgeschaltet wären. Der Marktanteil unabhängiger Medien beträgt etwa 20 Prozent.

Jeden Morgen ploppt eine Nachricht in mein E-Mail-Fach: „Koffein“ – die tägliche Kolumne des „Magyar Hang“ – zu deutsch: Ungarische Stimme oder auch: Ungarischer Ton. Magyar Hang ist eine unabhängige politische und kulturelle Wochenzeitung6 mit einem starken Webauftritt und einem kleinen Budget. Die Kolumne verhackstückt sowohl große Politik als auch kleine Alltäglichkeiten, spitz, ironisch, kritisch – und oft auch witzig.

Daraus ein Beispiel vom 12.12.2024: Thema ist das Telefonat zwischen Wladimir Putin und Viktor Orbán. Der Autor István Dévényi zitiert die Sicht des Kremls:

Wladimir Putin „erläuterte seine grundsätzliche Einschätzung der aktuellen Entwicklung der Lage um die Ukraine und des destruktiven Kurses des Kiewer-Regimes, das weiterhin die Möglichkeit einer friedlichen Beilegung des Konflikts ausschließt“ – soweit der Kreml.

Später hat Viktor Orbán das Treffen ebenfalls gepostet, aber nur, dass wir uns in den gefährlichsten Wochen des Krieges befinden und dass wir alle verfügbaren Mittel nutzen, um einen Waffenstillstand und den Frieden zu fördern.

Er schließt mit: Es läuft gut, schaut her. Man kann in Donald Trump verliebt sein und sich zwischendurch in der Rolle des größten Friedenskämpfers gefallen, aber der einzige Mann, der Frieden schaffen kann, ist Wladimir Putin, der gerade gesagt hat, dass er dazu überhaupt keine Lust hat. Unser nationaler Eisbrecher hat wieder einmal einen Eisberg gerammt.7

Ein anderes Beispiel ist 24.hu, eine Internet-Nachrichtenplattform. Schlagzeile vom 19. Dezember: „Die Regierung gibt 1,5 Millionen Euro für Rechtsanwälte aus, die gegen das Urteil des Europäischen Gerichtshofs gegen Ungarn vorgehen sollen“. Ungarn wurde wegen seines Migrationsgesetzes zu einer Buße von 200 Millionen Euro verurteilt. Das Urteil wird nicht infrage gestellt – aber die Abwehrreaktion der Regierung breit thematisiert. 

YouTube als Galerie für freie Medien

Es gibt weitere Beispiele für kritische Berichterstattung: Telex.hu ist eines davon. Deren YouTube-Kanal hat fast 300 000 Abonent*innen. In einem Interview auf Telex.hu vom 17. Dezember antwortete der mit vielen Preisen ausgezeichnete Theater- und Filmschauspieler György Cserhalmi, Jahrgang 1948, auf die Frage des Moderators, was er in Ungarn heute sieht: „Feudalismus“.8

Überhaupt ist YouTube eine wahre Fundgrube. Hier werden staatliche Nachrichten hinterfragt, Diskussionsforen mit Oppositionspolitker*innen organisiert und Interviews mit Regierungskritiker*innen geführt. Und natürlich werden soziale Medien genutzt, um sich zu artikulieren. 

Es gibt sie – aber wer braucht eine unabhängige Berichterstattung?

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass es für die politikinteressierten Bürger*innen in Ungarn sehr wohl möglich ist, sich ein faktenbasiertes eigenes Bild über die Lage im Lande und in der Welt zu verschaffen. Eine andere Frage ist, wer diesen aufklärerischen Anspruch hat und nutzt. 

Wie in vielen EU-Staaten unterstützen vor allem traditionalistisch denkende, in ländlichen Gebieten lebende, unterdurchschnittlich gebildete und von staatlichen Gehältern oder Zuwendungen abhängige Menschen autokratische und autoritäre Regierungsformen9. So erstaunt es nicht, dass der größte Teil der in Ungarn lebenden Roma zu den treuesten Orbán-Fans gehört10

Ein neuer Leitstern am Oppositionshimmel: Péter Magyar.

Die ungarische Regierung hat allen propagandistischen Erfolgen zum Trotz akut Grund zur Sorge. Seit 2024 formiert sich erstmals ein ernsthafter Angriff auf das staatlich kontrollierte Macht- und Medienmonopol.

Mit Erstaunen beobachtete die europäische Öffentlichkeit den rakentenhaften Aufstieg des schärfsten und erfolgreichsten Orbán-Gegners Péter Magyar und seiner Partei Tisza, zu deutsch: „Respekt und Freiheit“ (Tisztelet és Szabadság). Péter Magyar stammt aus dem Umfeld von Orbáns Regierungspartei Fidesz. Seine Ex-Ehefrau war bis 2023 Justizministerin im Kabinett Orbán. Die konservative Tisza-Partei wurde unter seiner Führung 2024 aus dem Stand mit sieben Abgeordneten ins Europaparlament gewählt (heute Mitglied der EVP-Fraktion).

Der smarte Jurist, Jahrgang 1981, kennt sich mit den Fidesz-Methoden der Machterhaltung bestens aus. Er beherrscht die Klaviatur der medialen Selbstinszenierung mindestens ebenso virtuos wie Viktor Orbán. Péter Magyars wöchentliche Auftritte erzielen Zehntausende Klicks in den sozialen Medien11.

Und die Ungar*innen nehmen ihre Bürgerrechte ernst. Im Oktober 2024 protestierten Tausende Menschen in der Hauptstadt Budapest gegen die Monopolisierung der staatlichen Medien durch die Regierung von Ministerpräsident Orbán12. Ein starkes Polizeiaufgebot flankierte die Zusammenkunft. Gewalttätige Ausschreitungen wurden nicht registriert. 

 „Wir haben genug von der Bosheit, den Lügen und der Propaganda, unsere Geduld ist am Ende“, verkündete Péter Magyar auf dieser Kundgebung13. Ob er es schafft, die öffentlich-rechtlichen Medien wieder aufzubauen und die demokratischen Kontrollmechanismen wiederherzustellen, bleibt offen. Erst muss es ihm gelingen, ein Bündnis der zersplitterten ungarischen Opposition zu schmieden. Danach hätte er gegen Viktor Orbán eine echte Chance.

In Budapest ist immer von irgendwo eine heulende Sirene zu hören. Die Polizeiwagen bahnen sich den Weg über die Große Ringstraße. Eine ärmlich aussehende Frau meines Alters bettelt mich auf der Straße an. Das passiert noch öfter. Die Bettelnden haben einen geübten Blick. Im jüdischen Buchladen im XIII. Bezirk entdecke ich eine besondere CD in der Auslage. Ich betrete einen engen Raum. Bücher und Zeitschriften stapeln sich bis an die Decke. Die zierliche, sehr alte Dame bittet den benachbarten Ladenbesitzer um Hilfe, um das Stück aus dem mit schweren Eisenbeschlägen gesicherten Schaufenster zu befreien. „Ich bin klein, ich bin eine Frau, ich bin zu schwach!“, ruft sie ihm zu. Beide schmunzeln. Noch ein Wunsch? Ja. Ich nehme die gedruckte Wochenausgabe von Magyar Hang mit. Es lohnt sich, die ungarischen Verhältnisse weiterhin aufmerksam zu beobachten.

Budapester Buchladen (Foto: Susanne Scherrer)

Susanne Scherrer, studierte Dipl.Pol., forscht zur Familie Mendelssohn, übersetzt aus dem Ungarischen, vermittelt und unterstützt Literatur, Konzert- und Kunstevents. Lebt in Schwerin.

  1. https://www.hrw.org/de/news/2024/02/13/ungarn-medieneinschraenkungen-schaden-der-rechtsstaatlichkeit, abgerufen am 21.12.2024. ↩︎
  2. https://de.wikipedia.org/wiki/Korruptionswahrnehmungsindex#2022, abgerufen am 19.12.2024. ↩︎
  3. https://www.reporter-ohne-grenzen.de/fileadmin/Redaktion/Downloads/Ranglisten/Rangliste_2024/RSF_Rangliste_der_Pressefreiheit_2024.pdf, abgerufen am 19.12.2024. ↩︎
  4. https://www.reporter-ohne-grenzen.de/ungarn, abgerufen am 19.12.2024.
      ↩︎
  5. https://taz.de/Pressefreiheit-in-Ungarn/!5977766/, abgerufen am 19.12.2024 ↩︎
  6. https://hang.hu/rolunk, abgerufen am 19.12.2024.
      ↩︎
  7. Koffein, Magyar Hang vom 12.12.2024, übersetzt von der Verfasserin, assistiert von DeepL.
      ↩︎
  8. https://www.youtube.com/watch?v=eJbusZ_2Q8o, abgerufen am 21.12.2024. ↩︎
  9. https://www.swp-berlin.org/publikation/ungarn-nach-der-wahl-orban-geht-in-die-fuenfte-amtszeit, abgerufen am 20.12.2024. ↩︎
  10. https://www.dw.com/de/roma-politik-in-ungarn-korruption-statt-repr%C3%A4sentation/a-60703133, abgerufen am 20.12.2024. ↩︎
  11. https://www.youtube.com/@magyarpeterofficial, abgerufen am 20.12.2024 ↩︎
  12. https://www.dw.com/de/protest-in-budapest-gegen-propaganda-in-staatlichen-medien/a-70415756, abgerufen am 19.12.2024.
      ↩︎
  13. https://www.dw.com/de/protest-in-budapest-gegen-propaganda-in-staatlichen-medien/a-70415756, abgerufen am 19.12.2024. ↩︎

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