von Gerald Ullrich
Wie erwähnt, werden hier in loser Folge Beiträge aus politikwissenschaftlichen Fachzeitschriften vorgestellt. Sie ergänzen Rezensionen von Sachbüchern zu Themen wie Populismus, Krise der Demokratie, der Migrationsfrage und anderes mehr.
Heute ein Aufsatz des Politikwissenschaftlers Larry M. Bartels von der Vanderbilt University, USA. Er erschien in der Herbstausgabe von Foreign Affairs, einem amerikanischen Fachblatt zu Außenpolitik und Internationaler Politik.
Der Aufsatz (und ebenso ein vom selben Autor im letzten Jahr dazu veröffentlichtes Buch) behandelt ein Thema, das in aller Munde ist, denn es geht um Populismus. Zugleich liegt es aber gänzlich quer zu den aktuellen Debatten, was schon der Titel anklingen lässt: „Das Phantom des Populismus“.
Die zentrale These des Politikwissenschaftlers ist, dass sich hinter der populistischen Welle, die durch etliche Länder Europas (und der Welt) schwappe, weniger ein vermeintlicher Rechtsruck der Wählermeinungen verberge. Er zeigt vielmehr, dass sich die Einstellungen in den europäischen Bevölkerungen in den letzten 20 Jahren zu populistischen Reizthemen, wie Einwanderung, europäische Integration, Vertrauen in Politiker und Zufriedenheit mit der Demokratie nicht so grundlegend geändert hätten, wie man es angesichts der Wahlerfolge populistischer Parteien annehmen würde. Die unbestreitbaren Wahlgewinne rechtspopulistischer Parteien spiegelten hingegen offensichtliche Misserfolge der etablierten Parteien wider. Es gehe bei den Wahlerfolgen von Populisten also eher um das Abstrafen bzw. Hinausbefördern von als lösungsunfähig erlebten politischen Eliten. Sowohl das Ausmaß der populistischen Wahlgewinne als auch deren Auswirkungen würden von der Presse wiederum übertrieben dargestellt – wodurch der Populismus zusätzlichen Auftrieb bekäme. Gleichzeitig werde von eigentlichen Problemen abgelenkt , nämlich den Versäumnissen der dominanten politischen Eliten.
Die schlagendsten Beispiele für Rückschritte der demokratischen Verfasstheit in Europa, nämlich in Ungarn und Polen, seien entgegen landläufiger Meinung nicht darauf zurückzuführen, dass die Wähler in diesen Ländern Autoritarismus wünschten. Vielmehr resultierten sie daraus, dass konventionelle konservative Parteien, sobald sie gewählt waren, die Gelegenheit nutzten, sich an der Macht zu etablieren. So habe etwa Victor Orban die eigentliche populistische Rhetorik erst nach seinem großen Wahlsieg (2010) eingesetzt und demokratiegefährdende Maßnahmen in die Wege geleitet, während der damalige Wahlsieg damit zu tun hatte, eine korrupte und versagende Elite aus dem Amt zu jagen.
Unter dem Gesichtspunkt der Demokratiegefährdung sei daher nicht primär Misstrauen gegenüber den Bevölkerungen angebracht, sondern was politische Eliten mit der grassierenden Unzufriedenheit über mangelhafte Lösung wichtiger Probleme machten, seien dies ökonomische Fragen, Migration, Wohnungsnot, Korruption, unzureichende Gesundheitsversorgung oder dergleichen. Daher spricht Bartels hier von einem top-down und nicht von einem bottom-up Prozess.
Den verbreiteten Fehlwahrnehmungen (Rechtsruck usw.) läge eine viel zu simple Vorstellung von Politik zugrunde, die einen glauben mache, dass, so Bartels wörtlich weiter, „die treibende Kraft hinter großen Veränderungen in den Parteiensystemen und Regierungskoalitionen (…) entsprechend große Veränderungen in der öffentlichen Meinung sein (müssen). Wenn populistische Parteien in den Parlamenten an Stärke gewinnen, dann müsse das daran liegen, dass sich die Menschen gegen Einwanderung, europäische Integration und etablierte politische Institutionen wenden. (Das tun sie nicht) Wenn demokratische Normen und Institutionen erodieren, dann muss das daran liegen, dass die öffentliche Unterstützung für die Demokratie als Regierungssystem nachgelassen hat. (Das ist nicht der Fall.) (…) Das Schicksal der Demokratie liegt in den Händen der Politiker. Sie sind es, die sich dafür entscheiden, populistische Stimmungen zu verwalten, zu besänftigen, zu ignorieren oder zu schüren. Es ist ein gefährlicher Fehler, ihre Zurschaustellung des Eingehens auf den angeblichen Willen des Volkes leichtgläubig zu akzeptieren (…) es sind die Politiker, nicht die Bürger, die schuldig sind.“
Sein Fazit lautet: „Der zunehmend hemmungslose Kampf um die Macht unter den Eliten, nicht der Populismus, stellt die größte Bedrohung für die Demokratie in den USA und anderswo dar“. Denn diese Eliten würden populistische Stimmungslagen dazu benutzen, ihre eigene Machtposition in der Weise zu festigen, dass sie gegen Entmachtung durch Wahlen, also gewissermaßen das Kerngeschäft von Demokratie, zukünftig gefeit sind.
Larry M. Bartels: The Populist Phantom. Threats to Democracy Start at the Top. Foreign Affairs, 22.10.2024