Neuerscheinung: „Und dahinter das Meer“ von Laura Spence-Ash

von Manja Wittmann

Der mare-Verlag steht für herausragende Qualität, und selbst wenn das Cover wieder einmal die Rückenansicht einer Frau zeigt, die in die Ferne schaut, ist dieser Roman unbedingt zu empfehlen.

London im Jahr 1940: Es geht um die 11-jährige Beatrix und ihre Eltern Reginald und Millie Thompson. Die Angst vor den deutschen Luftangriffen lässt die besorgten Eltern einen radikalen Schritt tun, den schlussendlich Reginald entscheidet und Millie sehr bedauert: Sie schicken ihre einzige Tochter in die USA nach Boston in eine Gastfamilie – ohne zu ahnen, dass sie 5 Jahre dort bleiben wird. Entscheidende fünf Jahre.

Die Gregorys sind eine großzügige Familie und nehmen sie herzlich auf. Ethan ist Lehrer, Nancy Hausfrau und die beiden Söhne William und Gerald sind ungefähr in Beas Alter. Nancy freut sich sehr über eine dazugewonnene Tochter. Ethan bleibt zunächst auf Abstand, die Jungs sind tolle Spielkameraden. Sie verbringen wunderbare Sommer in ihrem Ferienhaus auf einer Insel in Maine. Bea lernt schwimmen und Hummer zu essen. Nach einiger Zeit möchte sie gar nicht mehr zurück nach London.

Die Entfremdung merkt auch ihre Mutter und sie ist deshalb im Gegensatz zu ihrer Tochter sehr froh, als diese 1945 wieder nach London zurückkehrt. Für Bea beginnt nun ein ganz neuer Lebensabschnitt, aber die Sehnsucht nach ihrer amerikanischen Familie bleibt. Die Familiensituation in London ist eine völlig andere und sie beginnt bald ihr eigenständiges Erwachsenenleben.

Und auch die Gregorys gehen verändert aus diesen fünf Jahren hervor, denn zwischen Bea und den beiden Brüdern hat sich etwas entwickelt, das nach den fünf gemeinsamen Jahren noch lange nicht zu Ende ist.

Die Autorin erzählt diesen Roman in drei Kapiteln mit größeren Zeitsprüngen über insgesamt 35 Jahre. In ganz kurzen Abschnitten werden immer abwechselnd die Blickwinkel einzelner Figuren übernommen und deren Gedanken und Haltungen beschrieben. So entsteht ein Kaleidoskop zweier Familien, die der 2. Weltkrieg durcheinander geschüttelt hat, was weit darüber hinaus Wirkung zeigt. Es geht um Fragen der Zugehörigkeit und der Sehnsucht nach einem anderen, vielleicht doch möglichen Leben.

Die Spannung bei der Lektüre entsteht aus den Charakteren heraus, ihren Gedanken, ihren natürlich häufig konträren Wahrnehmungen und ihren sich ständig verändernden Beziehungen zueinander. Die Autorin hat in einem Interview frei herauszugegeben, dass sie Figuren viel interessanter findet als Plots. Nun ist es aber nicht so, dass hier wenig passiert, im Gegenteil. Schnell befindet man sich inmitten eines sehr gekonnten Erzählflusses voller Wendungen.

Was mich sehr beeindruckt: Laura Spence-Ash hat hier mit 63 Jahren ihren Debütroman vorgelegt. Danach befragt, sagte sie in Interviews, dass sie zunächst mehr lesen und erleben wollte, bevor sie selber schreiben konnte. Dass dieser Roman dann ein großer weltweiter Erfolg wurde, ist für sie und für alle Leserinnen und Leser ein wirklicher Gewinn.


Im Original erschienen unter: Beyond That, the Sea
Aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Feldmann gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 368 Seiten, ISBN: 978-3-86648-702-4, erschienen am: 02.08.24 und kostet 25 Euro.

Manja Wittmann ist Bücher-Lotsin des Kulturkompass-MV und wird uns in alle möglichen Himmelsrichtungen literarischer Neuerscheinungen führen. Sie ist Buchhändlerin in München. Manja hat lange in der Film-und Fernsehbranche gearbeitet und wird uns beim Kulturkompass-MV auf ihre literarischen Favoriten hinweisen und spannende Sachbücher empfehlen. Sie kommt aus Schleswig-Holstein und da wundert es nicht, dass der Schwerpunkt auf Büchern liegt, die mit dem Meer zu tun haben oder von nord- bzw. ostdeutschen Autor*innen stammen.

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