CDs mit Musik aus Mecklenburg-Vorpommern

Folge I

von Reinhard Wulfhorst

Musik aus Mecklenburg-Vorpommern – „Gibt es denn da bemerkenswerte Kompositionen?“ höre ich immer wieder. Nach etwa zwei Jahrzehnten intensiver Befassung und vielen positiv-überraschten Reaktionen von Publikum und Fachpresse kann ich das nur mit einem eindeutigen „Ja“ beantworten. Da diese Musik immer noch viel zu wenig im Konzertsaal zu hören ist, sind wir auf Einspielungen angewiesen, um sie kennenzulernen. Über den Daumen gepeilt dürfte es mittlerweile etwa 100 CDs geben, die (zumindest auch) Musik aus M-V präsentieren. Um auf diese Zahl zu kommen, müssen wir nicht einmal die 1. Sinfonie von Johannes Brahms bemühen. Für deren Finale bekam Brahms nach 14 (!) Jahren harten Ringens die entscheidende Idee unter dem Eindruck der wilden Kreidefelsen auf der Insel Rügen – eine frühe und besonders wirkungsreiche Form des „MV tut gut“-Tourismus also. Nein, „aus M-V“ meint wirklich Musik von Komponistinnen und Komponisten, die hier im Land gelebt und gewirkt haben.

Mecklenburg – eine Region mit reicher Musiktradition

 

Aus diesem Angebot, das immer größer wird, aber leider noch empfindliche Lücken aufweist, möchte ich in acht Folgen eine Auswahl meiner persönlichen Favoriten vorstellen: Aufnahmen, bei denen mir Musik und Interpretation besonders empfehlenswert erscheinen. Dieser kleine „CD-Führer M-V“ soll rechtzeitig vor Weihnachten abgeschlossen sein. Das ist kein Zufall. Denn die CDs sollen nicht nur eigenen Genuss bereiten, sondern eignen sich auch als ein schönes Geschenk. Gerade für Freunde und Familie jenseits der Landesgrenzen, denen man so zeigen kann, dass Mecklenburg-Vorpommern nicht nur einzigartige Naturräume, großartige Monumente der Backsteingotik und die Bäderarchitektur vorweisen kann, sondern auch über eine reiche Musiktradition verfügt.

Musikalische Stimmungsaufheller

 

Aber auch im Land sollte diese Musik viel öfter gehört werden. Nicht nur, weil wir auf diesen kulturellen Reichtum ein klein bisschen stolz sein können. Sondern auch, weil es bemerkenswert oft ausgesprochen unterhaltsame „Gute-Laune-Musik“ ist, die eine Lebensfreude versprüht, für die Nord(ost)deutschland ja nicht gerade bekannt ist. Ich war gerade eine Woche in London (nebenbei: in der British Library – und nur dort – liegen viele alte Erstdrucke mit Musik aus M-V!). Als ich nach Hause zurückkam und mir das ein oder andere miesepetrige Gesicht begegnete, dachte ich, dass ja häufigerer Genuss von Louis Massonneau, Friedrich Wilhelm Kücken und Co. dazu beitragen kann, die Stimmung ein wenig aufzuhellen.

 

Die vorgestellten Komponistinnen und Komponisten aus M-V sind auf ihre je eigene Weise spannende Persönlichkeiten gewesen. Darüber können die kurzen Booklettexte zu den CDs nur begrenzt Auskunft geben. Für diejenigen, die sich ausführlicher über die Lebensläufe informieren möchten, gibt es deshalb am Schluss jeder CD-Vorstellung noch eine weiterführende Leseempfehlung – vorzugsweise eine solche, die leicht online erreichbar ist.

 

Sie haben es sicher schon gemerkt: Ich bin immer noch ein Anhänger der „anfassbaren“ CD. Aber selbstverständlich sind die empfohlenen Aufnahmen auch bei den gängigen Streaming-Diensten gelistet.

Mecklenburgs komponierende Frauen 

 

Beginnen möchte ich diese Reihe mit einer komponierenden Frau: Emilie Mayer. Nach fast 150 Jahren des vollkommenen Vergessens ist sie im Moment wohl unter allen Komponistinnen und Komponisten aus M-V am häufigsten im Radio zu hören – eine späte Wiedergutmachung.

 

Emilie Mayer, Sinfonien Nr. 3 C-Dur Sinfonie Militaire und Nr. 7 f-Moll, NDR Radiophilharmonie, Jan Willem de Vriend, cpo/NDR 2022

 

Emilie Mayer, 1812 in Friedland geboren, verließ im Alter von 28 Jahren die mecklenburgische Kleinstadt mit dem für eine Frau ihrer Zeit geradezu unglaublichen Ziel, Komponistin zu werden – und sie wurde es. Ich halte sie sogar für die erste „hauptberufliche“ Komponistin der Musikgeschichte. Die Zeitgenossen haben sie »Symphonie-Componistin« genannt; sie hat acht große Sinfonien komponiert – für eine Frau ihrer Zeit einzigartig. In das Reich der Fabel hingegen gehört wohl die häufig zu lesende Behauptung, sie sei zu Lebzeiten als „der weibliche Beethoven« bezeichnet worden.

 

Zupackend und vorwärtsdrängend

Unter allen Sinfonien möchte ich Ihnen die Siebte in f-Moll dringend empfehlen. Sie legt gleich vom ersten Takt an furios los und hält diese Spannung bis zum letzten Takt aufrecht, was man von der früheren Sinfonik Mayers nicht immer sagen kann. Die Siebte bietet alles, was das sinfonische Herz begehrt: weite Spannungsbögen, große Steigerungen, orchestrale Prachtentfaltung, charaktervolle Bläsersoli, gut vorbereitete, aber keineswegs immer erwartbare Stimmungsumschwünge, spannungsreiche Wechsel zwischen sogartig vorwärtsdrängenden Passagen und wunderbar schwärmerischen Melodien. Der sonst so freundliche Charakter der Musik von Emilie Mayer hat hier etwas ungemein Zupackendes, bisweilen Bissiges gewonnen, was ihr ausgesprochen gut zu Gesicht steht.

 

Das alles unterstützen der Dirigent Jan Willem de Vriend und die NDR Radiophilharmonie durch eine herausragende Interpretation. Ihre Spielweise ist der historisch informierten Aufführungspraxis verpflichtet, die sich den Interpretationsgewohnheiten der Entstehungszeit wieder anzunähern versucht: reduzierte Streicherbesetzung, schlanker Klang mit vibratoarmem Spiel und gute Durchhörbarkeit. Dabei scheint das Orchester auf der Stuhlkante zu sitzen; sein geschärft-leidenschaftlicher Musizieransatz packt auch beim wiederholten Anhören.

Dieses Niveau kann die auf der CD ebenfalls präsentierte 3. Sinfonie nicht ganz halten; hörenswert ist sie aber allemal. Der Sinfonie ihren Beinamen Militaire gegeben hat der 4. Satz, in dem Triangel, Becken, große Trommel und Piccoloflöte zum Einsatz kommen. Allerdings hat Emilie Mayer offenbar zu dem „Militärischen“ auf sympathische Art keinen rechten Zugang gefunden, wovon der mit musikalischen Stereotypen keineswegs spielende, sondern diese durchexerzierende Satz zeugt.

 

Die Wiederentdeckung vergessener Komponistinnen und Komponisten aus M-V ist entscheidend abhängig von engagierten Menschen. Deshalb möchte ich abschließend noch auf die vor zwei Jahren in Friedland gegründete Emilie Mayer Gesellschaft aufmerksam machen, die auf vielfältige Weise die Komponistin und ihr Werk bekannter machen will.

Lesetipp: Leicht zugänglich, sachlich korrekt und auf das Wesentliche konzentriert informiert über Emilie Mayer der Beitrag von Heinz-Mathias Neuwirth bei „Musik und Gender im Internet (MUGI)“. Das lässt sich leider über die Biographie von Barbara Beuys „Emilie Mayer: Europas größte Komponistin: eine Spurensuche“ (2021) nicht sagen, von der ich trotz positiver Rezensionen nur abraten kann: Fehlerhaft, mit heißer Nadel gestrickt und ohne Offenlegung die immer noch maßgeblichen Forschungen von Almut Runge-Woll (2003) übernehmend. Außerdem gelingt der Autorin das Kunststück, ein Buch über eine Komponistin zu schreiben, ohne auch nur einen einzigen eigenen substantiellen Satz über deren Musik beizusteuern.

Um diese Folge nicht mit einer solchen Kritik zu schließen: Ansprechend präsentiert wird das Leben von Emilie Mayer auch hier: Emilie Mayer

Reinhard Wulfhorst, Dr. beschäftigt sich neben seiner Tätigkeit in der Landesregierung mit Musik aus M-V und als Inhaber des Musikverlages Edition Massonneau (www.edition-massonneau.de) mit Veröffentlichungen über Komponistinnen und Komponisten aus dem Land. Er möchte zu diesem Thema schreiben und ab und zu über ein Konzert berichten.
Sie möchten uns zu dem Beitrag ihre Meinung sagen? Haben Vorschläge, Ideen oder Kritik? Hier ist dafür die richtige Adresse: info@kulturkompass-mv.de

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