von Susanne Scherrer
Erste Frage: wer kennt das Wolhynien-Umsiedlermuseum in Linstow, Landkreis Rostock? Zweite Frage: Wo liegt überhaupt Wolhynien? Dritte Frage: Welche Umsiedler hat es nach Linstow verschlagen? Historiker und Journalist Wolf Karge klärt auf. Zwei Drittel Wolhyniens liegen im Nordwesten der Ukraine. Seit 1830 siedeln dort Deutsche auf der Suche nach einem besseren Leben. Die neuen Siedler verstehen sich auf Landwirtschaft und Handwerk. Sie bilden eine eigene Solidar- und Religionsgemeinschaft und sprechen „Woliniendeitsch“. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges fliehen die Wolhynien-Deutschen vor der vorrückenden Roten Armee westwärts. Schließlich finden 40 überlebende Familien in Linstow Zuflucht. Sie bauen ihre typischen Holzhäuser wieder auf – und eines davon beherbergt heute das Wolhynien-Umsiedlermuseum. Der aktuelle Bezug Wolhyniens zu Krieg, Flucht und Vertreibung verdeutlicht die Tragik ihres Schicksals. Es ist Teil unserer Landesgeschichte.
Gleich zwei Mecklenburgs gibt es zu entdecken
Stolze 54 solcher wenig bekannter Orte im Mecklenburger Binnenland hat Wolf Karge aufgespürt und ihre Geschichten aufgeschrieben. Der ausgewiesene Historiker nimmt uns mit auf eine Entdeckungstour quer durch die Weite Mecklenburgs oder der ehemaligen zwei Mecklenburgs, denn wir bereisen das großflächige Mecklenburg-Schwerin und das kleine, aber oho-Herzogtum Mecklenburg-Strelitz. Von Schwerin bis nach Carwitz zu Hans Fallada verstreut Karge seine weißen Kieselsteinchen zu verborgenen Zielen. In Zarrentin am Schaalsee besuchen wir „ein Restkloster mit moderner Ausstrahlung“ und südlich davon zwischen Boizenburg und Wittenberge die größte Binnenwanderdüne Europas. In Sternberg führt uns Wolf Karge zu den Stätten der Judenpogrome: am 24. Oktober 1492 werden dort auf Geheiß des Erzbischofs von Magdeburg 27 Juden unter der falschen Anklage der Hostienschändung öffentlich verbrannt, ihre überlebenden Glaubensgenossen verjagt. Die Aktion erregte europaweit Aufsehen und vermutlich Nachahmer. Es geht weiter nach Ludwigslust, Malchin, wir besichtigen Schloss Basedow mit seinen erstaunlichen architektonischen Kostbarkeiten, machen Station in Boek, einem alten Gutsdorf mit historischer Struktur an der Müritz und lassen uns schließlich erschöpft am Cafétisch der alten Kachelofenfabrik in Neustrelitz auf einen Stuhl fallen. Und planen von dort aus die nächsten Touren zu unbekannten Orten, die uns der Autor vorschlägt.
Die Beschreibungen sind knapp und sachlich auf jeweils zwei bis vier Seiten abgefasst, Wolf Karge verzichtet auf überzuckerte Werbeprosa und versorgt uns stattdessen mit praktischen Hinweisen und jeweils einem oder zwei aussagekräftigen Bildern.
Die einzelnen Orte, die Wolf Karge uns vorschlägt, sind in „Oasen“, „Lieblingsorte“ und „Geheimtipps“ eingeteilt. Der Mehrwert dieser Kategorisierung hat sich mir nicht erschlossen. Geheimtipps sind dann kein Geheimnis mehr, wenn man sie verrät. Oasen versiegen, wenn alle dort vom kostbaren Wasser schöpfen. Und „Lieblingsorte“ brauchen kein zusätzliches Label. Auf diese austauschbaren Formeln hätte der neue Reise- und Ausflugsführer von Wolf Karge verzichten können – auch so ist die Neugier erweckt.
Ein Buch für Menschen die mehr wissen und Unbekanntes entdecken wollen
Ich empfehle diesen Band zuerst den Menschen in Mecklenburg, den geschulten Einheimischen und den neugierigen Zugezogenen, also allen, die sich für die Geschichte und die Kultur der Region interessieren, in der sie leben. Und dann sollen es unbedingt noch diejenigen in die Hand nehmen, die gern herkommen, wiederkommen. Und ganz besonders lege ich es allen ans Herz, die meinen, sie hätten schon alles gesehen, die bekannten Schlösser, Herrenhäuser und Parks abgeklappert, die Strände und Ferienorte besucht, und der Rest sei halt Landschaft. Falsch! Dieses Buch ist geschrieben für Leute, die mehr wissen wollen, für Entdecker. Und: verschenkt diesen Band bitte so oft Ihr könnt!
Wolf Karge: Mecklenburgs Binnenland. Vom Schaalsee bis zur Seenplatte. Ellert & Richter Verlag, Hamburg 2022. 180 Seiten, broschiert. 18,00 Euro.