von Gerald Ullrich
Wenn es um große Politik geht, ist das Nachbarland Italien selten um Schlagzeilen verlegen gewesen. Gefühlt immer schon waren es die geringen Halbwertszeiten der jeweiligen Regierungen. Seit dem kometenhaften Aufstieg Silvio Berlusconis Mitte der 1990er Jahre aber hat das italienische Politiktheater eine neue Intensität bekommen – und es ließ sich dort beobachten, was mit Zeitverzögerung auch in anderen europäischen Staaten zunehmend deutlich wurde, nämlich, dass sich die Demokratie unter dem Druck populistischer Parteien und ihrer Gallionsfiguren zu wandeln begann, Ende offen. Für Michael Braun, um dessen Buch es nachfolgend gehen soll, heißt das vorläufige Ende in Italien jedenfalls „postfaschistische Demokratie“ – auch wenn Georgia Meloni diesbezüglich noch nicht am Ziel ist.
Mit „Von Berlusconi zu Meloni: Italiens Weg in den Postfaschismus“ ist im Oktober ein 200 Seiten starkes Bändchen im Dietz-Verlag erschienen, das den Weg dieser populistischen Wende nachzeichnet. Das Buch zeigt dabei auf, an welchen Stellen man Weichen womöglich falsch gestellt hat bzw. welche möglichen Abzweige sträflich versäumt wurden. Etwa, wenn das linke Lager sich immer wieder zerstritten zeigte, wo es sich hätte einig zeigen müssen, wie wir es zuletzt in Frankreich beobachten konnten, als es darum ging, den drohenden Griff Marine Le Pens nach der Macht zu verhindern. (Dass der überraschend erfolgreiche französische „cordone sanitäre“, also die Brandmauer gegen rechts, gleichwohl und ausgerechnet vom Präsidenten Macron unterlaufen und ausgehebelt wurde, ist ein anderes Kapitel.)
Zurück zum Buch und seinem Autor, Michael Braun, Jahrgang 1957, der von Hause aus Historiker ist und seit 1993 in Rom lebt. Dort ist er nicht nur als wissenschaftlicher Mitarbeiter im italienischen Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, sondern schreibt auch als Korrespondent für die TAZ. Womit klar sein sollte, dass da jemand gut lesbar zu schreiben versteht. Und in der Tat liest sich das Buch sehr leicht, fast möchte man meinen, es werde einem die jüngere Geschichte der italienischen Parteienlandschaft erzählt.
Braun, der auch regelmäßig (und genauso gut, dabei sogar kostenlos) für die Online-Zeitschrift Internationale Politik und Gesellschaft schreibt, sieht in der langen, wechselvollen Berlusconi-Periode eine wichtige Vorbereitung des aktuellen Erfolgs der Postfaschisten um Meloni. Denn bereits unter Berlusconi habe eine wichtige Koordinatenverschiebung nach rechts und eine „Normalisierung“ der Postfaschisten stattgefunden: „Seit 1994 hatten immer wieder Minister der Lega und der Fratelli d’Italia bei Berlusconi am Kabinettstisch gesessen. Umgab nicht auch sie deshalb eine Aura der Normalität?“ (S. 143).
Als „Postfaschismus“, und nicht einfach als eine unter vielen möglichen konservativen Regierungen, sieht Braun die Partei von Georgia Melonis, die Fratelli d’Italia, vor allem dadurch, dass sie sich vom Faschismus Mussolinis nur als Lippenbekenntnis verabschiedet hätte, was er im Kapitel 10 („Die Häutungen der italienischen Rechten“) näher beleuchtet. Dazu gehört auch, dass das Land gespalten werde in Patrioten und „anti-italienische“ Kräfte, die es zu bekämpfen gelte. Und dass der Staat umgebaut werde in eine präsidiale Demokratie, „die zwar keinen Duce mehr an der Spitze sieht, wohl aber einen plebiszitär ermächtigten starken Mann – oder eine starke Frau –, die die Regierung – ebenso wie das Parlament – völlig in der Hand hat“, und also von seiner Rolle beraubt, demokratisch erlangte Macht zu kontrollieren (S. 195 f.). Braun spricht aus diesem Grund auch von der „entkernten Demokratie“, einem Begriff, der den politisch Interessierten aus der Diskussion um die politische Entwicklung in Ungarn (sowie Polens unter der PiS-Regierung) nicht unbekannt sein dürfte.
Wer sich für Italien nicht nur touristisch interessiert, der wird dieses gut geschriebene Bändchen mit Interesse lesen. Zudem ist es eine instruktive Aufarbeitung mit Implikationen für andere Länder hinsichtlich der Frage, welche Fehler man im Umgang mit populistischen Strömungen besser nicht begeht.