Halbinsel

Der neue Roman von Kristine Bilkau

vorgestellt von Manja Wittmann

Die Bibliothekarin Annett, Ende 40, lebt schon einige Jahre allein in einem kleinen Ort an der Schleswig-Holsteinischen Nordseeküste. Ihr Mann Johan starb vor 20 Jahren an einem Herzstillstand beim Joggen. Linn, ihre erwachsene Tochter, wohnt nach längerem Auslandsstudium seit Kurzem in Berlin und ist erfolgreich als Klimaforscherin tätig. Annett ist unzufrieden mit ihrem Leben, aber ratlos, ob sie das Familienreihenhaus vielleicht verkaufen und wegziehen soll.

„Ich zweifelte daran, ob ich mich irgendwo anders zugehörig fühlen würde. Ob das wirklich gelingen könnte. Wo würde die Einsamkeit lauern? Hinter der Veränderung oder dem Vertrauten? “

Diese Gedanken werden schlagartig verdrängt, als Linn während eines Vortrags in einem Hotel in Brandenburg zusammenbricht. Annett wird verständigt und holt sie aus dem Krankenhaus zu sich. Es kann nichts Gravierendes festgestellt werden, Linn ist nur unendlich erschöpft. Sie will nicht reden und nichts erzählen, nur schlafen. Annett ist hin- und hergerissen zwischen mütterlicher Fürsorge und Genervtheit über die Antriebslosigkeit ihrer Tochter. 

Kurz zuvor ist im Nachbarhaus eine dreiköpfige Wohngemeinschaft eingezogen: Agnes, Marie und Levin, alle um die 30, freundliche und kontaktfreudige Leute, die als Sprachlehrerin, Wattenmeer-Rangerin und mit Haushaltsauflösungen ihr Geld verdienen. Plötzlich sieht sich Annett inmitten vieler junger Menschen, deren Lebensentwürfe so anders sind als die in ihrer Generation. Das, was für Annett nur vorläufig wirkt, ist in Wirklichkeit für die anderen schon das erwünschte Leben. Freiheit ist ein häufig genannter Begriff in Gesprächen beim gemeinsamen Essen.

Inzwischen wird klar, dass Linn aus Enttäuschung über ihren vermeintlich umweltbewussten Arbeitgeber ihren Job gekündigt hatte, bevor sie den Vortrag hielt. Sie löst ihre Wohnung in Berlin auf und zieht ganz zu ihrer Mutter. Auch wenn es immer noch hakt zwischen den beiden, ist Linn nicht mehr so kurz angebunden, und das Reden auch über die Vergangenheit bringt die beiden Frauen wieder näher zueinander. Annett konferiert dabei in Gedanken immer häufiger mit dem verstorbenen Johan, fragt ihn um Rat und weiß doch selber, was zu tun wäre. Die Jahre als junge, unendlich traurige Witwe, alleinerziehend und immer knapp bei Kasse, liegen gefühlsmäßig noch gar nicht so weit zurück. Auch interessiert sie sich zunehmend für die beruflichen Entscheidungen ihrer Tochter, das Verständnis füreinander wächst. 

„Ich dachte über Fürsorge nach, für das eigene Kind. Wie sehr stand diese Fürsorge der Freiheit des Kindes im Wege?“

Auch die Unternehmungen mit den WG-Leuten nehmen zu: Wattwanderungen mit Schimmelreiter-Anmutung, gemeinsame Ausflüge und Abendessen. Als dann plötzlich eine Forderung des Hotels über viele Tausend Euro ins Haus flattert, dass wegen Linns Ohnmacht und einem umgestoßenen Saftglas ein Schaden an einer Wand und einem teuren Gemälde zu bezahlen sei, reagiert Annett auf überraschende Weise. Und auch die Annäherung zwischen ihr und Levin ist nicht zu übersehen. Das Ende sei nicht verraten, aber endlich traut Annett sich, etwas womöglich Unvernünftiges zu tun.

Frisch ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 ist der Roman „Halbinsel“ von Kristine Bilkau ein echter Glücksfall. Die 1974 in Hamburg geborene Autorin erschafft mit einer ganz klaren und ungekünstelten Sprache Situationen, die alltäglich wirken, aber sehr einprägsam und stellenweise auch anrührend sind. Eingangs ist der Roman recht spröde, aber je mehr wir über die Hauptfigur Annett erfahren, aus deren alleiniger Perspektive erzählt wird, desto näher kommt sie uns Leser*innen und desto weiter werden die Themen ihres Lebens und dem ihrer Tochter gespannt. Sie reichen von Klimaschutz bis hin zu Selbstbestimmung und Bewältigung herausfordernder Krisen. Was zunächst wie eine Mutter-Tochter-Geschichte aussieht, öffnet sich zu einer mitreißenden Erzählung über die vielen Möglichkeiten individuellen Entscheidens und des menschlichen Miteinanders. 

Kristine Bilkau „Halbinsel“, 224 S., Luchterhand Verlag, Hardcover, 24 Euro

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Manja Wittmann ist Bücher-Lotsin des Kulturkompass-MV und wird uns in alle möglichen Himmelsrichtungen literarischer Neuerscheinungen führen. Sie ist Buchhändlerin in München. Manja hat lange in der Film-und Fernsehbranche gearbeitet und wird uns beim Kulturkompass-MV auf ihre literarischen Favoriten hinweisen und spannende Sachbücher empfehlen. Sie kommt aus Schleswig-Holstein und da wundert es nicht, dass der Schwerpunkt auf Büchern liegt, die mit dem Meer zu tun haben oder von nord- bzw. ostdeutschen Autor*innen stammen.

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