Der Tiger aus Dassow

Buchbesprechung von Gottfried Timm

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Thekla
ging es darum, sich von allem freizumachen,
den Regeln der Großstadt, den Zwängen, dem Alten,
sich wieder … auf die Natur, den freien Himmel
und dessen Gewässer einzulassen.
Es war ein natürlicher Vorgang,
zugleich völlig ausgefallen, extrem.

Im neuen Roman Die Winterschwimmerin von Marion Poschmann, eine Verslegende, begegnen wir einer Protagonistin, die sich aus der Kurzatmigkeit der modernen Gesellschaft zu lösen sucht. Ihr Streben nach innerer Befreiung und nach einer Verbundenheit mit der Welt im Ganzen verweist sie nicht nur auf ihr tiefes Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, sondern führt sie auch zur Beschäftigung mit spirituellen Traditionen – und uns Leserinnen und Leser zur philosophischen Frage nach der Beziehung von Bewusstsein, Geist und Natur.

Thekla ist nicht nur eine gegenwärtige Person. Ihr Name enthält eine Anspielung auf eine christliche Legende aus dem zweiten Jahrhundert, nach der sich eine mutige Frau, Thekla aus Ikonium am östlichen Mittelmeer, aus den übergriffigen Strukturen einer Männergesellschaft herauskämpfte. Dort wird erzählt, wie Thekla zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurde, ein göttlicher Gewitterregen jedoch das zehrende Feuer löscht. Wie sie in einer Arena wilden Tieren vorgeworfen wurde, ein Löwe jedoch den sich auf sie stürzenden Bären überwältigt. Thekla, so heißt es, lernte dem Sohn Gottes zu vertrauen, weshalb sie – gegen jede geltende Erfahrung – nicht nur wundersam vor dem Feuer gerettet und vom Löwen beschützt wurde, sondern sich ihr nun in Freiheit das wahre Leben eröffnet.

Marion Poschmann wählte die literarische Form der Legende, in Europa vor allem als Heiligenlegende bekannt, und versetzte sich somit in die Lage, entlang Theklas Wahrnehmungen und Reflexionen über ihre Begegnungen mit der rauen Natur von einer höheren Wahrheit zu erzählen. In ihrem Werk verweben sich historische und spirituelle Bezüge mit einer Erzählstruktur, in der Formen aus verschiedenen literarischen Gattungen aufgegriffen sind. Wir entdecken Meditationspraktiken und Symbole aus der buddhistischen Tradition, Thoreau taucht auf, Nature Writing klingt an, vielleicht auch Rilke, auf Goethes Eisbaden wird verwiesen, auf Puschkin, und auf einige mehr. Der Leich, eine Lyrikgattung aus dem Mittelalter, ist neu aufgelegt; Gedichtformen aus der griechischen Antike rahmen einzelne Kapitel. Dabei wirkt die vergleichsweise kurze Erzählung weder überladen noch von literarischen Formen erdrückt, im Gegenteil! Diese Legende, Prosa und Lyrik vereint, in Versen teilweise gereimt, begegnet uns in einem wunderschön leichten, zugleich präzisen, gelegentlich augenzwinkernden Erzählstil. Ich habe das Buch mehrmals gelesen, dabei immer wieder neue Erzählschichten entdeckt.  

Thekla begibt sich auf eine spirituelle Reise, die sie in die Natur führt. Sie geht auch nach dem Sommer bei abnehmenden Temperaturen baden. Im Herbst sieht sie die Blätter der Bäume auf den Grund des Sees sinken. Im Winter schwimmt sie mit den auf den Eisschollen stehenden Enten auf Augenhöhe. Ein Tiger tritt auf, er lässt sich am Ufer auf ihr abgelegtes Badehandtuch nieder, Thekla steigt aus dem Wasser, dann liegt sie neben dem Tier. 

Thekla hat es von Paula, und Paula von ihrer
Großmutter Chris, der Kanalschwimmerin.

Was aber ist dieses „es“? Darum kreist diese Erzählung: Das Winterschwimmen und die Begegnung mit dem Tiger erwachsen aus Theklas geistiger Übung. 

Sie saß auf dem Kissen 
und sah in die Flamme.

sie atmete dieses Licht ein,
Exerzitien, mit geschlossenen Augen
die Flamme verfolgen,
die Flamme dann ausbreiten
zu einem Feuerball.

Sie staunt: ihr innerer Hitzeball hält dem Vordringen der Kälte durch die äußeren Hautschichten stand. Bei ihren ungewohnten Unternehmungen nimmt sie ihren Körper neu wahr und beobachtet, wie ihre anwachsende innere Kraft auf ihre Umgebung ausstrahlt. Und so kommt es zu der Begegnung mit dem Tiger 

pro Tag benötigt ein Tiger 5 Kilogramm Fleisch,
er fängt 10 Rehe im Monat,
oder 1 Wildschwein pro Woche
,

kommt es zur Begegnung mit dieser Raubkatze am Badestrand. Mensch und Tier außergewöhnlich nah beieinander, starkes aufeinander Achten, sich Betasten, fleischgewordene Verheißung des paradiesischen Friedens – in diesem einen Moment.

Großartig erzählt. In Die Winterschwimmerin wird die wechselseitige Beziehung von Körper und Geist thematisiert, von Wirklichkeit und Bewusstsein. Dabei begegnet uns Thekla nicht als individuelle, sondern vielmehr als eine symbolische Figur. Möglichkeiten, im Hier und Jetzt Grenzen zu überschreiten. Die Begegnung mit dem Tiger, der Höhepunkt des Romans, hat Thekla verändert.

So betrat ich die Landschaft, die meinen Gang in sich aufnahm,
Schritte versickerten rasch, flüssig bewegte ich mich,
fügte der Landschaft etwas hinzu mit meinen Gefühlen,
fügte Bäche hinzu, einzelne Felsen, Gestein,

wie in der älteren Malerei die starken Affekte
nicht in der kleinen Figur, sondern in Landschaftsdetails,
Wolken und Wellenschlag dargestellt werden, in größeren Mächten
etwa im drohenden Berg, in seinem tödlichen Firn,

in den getürmten Ansichten dunkelnder Cumulonimbi,

wo man doch zweifelsfrei Zorn, Zürnendes wiedererkennt,

oder in sprießenden Gräsern, die freundliche Heiterkeit malen,

Landregen wieder, der träg-sinnende Einsamkeit zeigt –
wie Atmosphärisches, Wetter und Lüfte, die Stimmung beeinflusst
und die Gemüter durchdringt, trug ich auch umgekehrt bei,
Landschaft und Gegend zu formen, halb unbewusst, mit der Empfindung,
menschliche Wolke zu sein, regelrecht Eis oder Dampf,
andere Wesen durchdringend und selbst, kaum bemerkt, von den anderen
eingeatmet zu sein, mich zu vermischen mit dem,
was sich längst von mir abgewandt hätte, weitergegangen
wäre, wie ein Passant, der nach der Uhrzeit gefragt.

Während zu Beginn der Legende unter der Kapitelüberschrift Den Tiger träumen dieser sich aus seinem Käfig befreit – er lehnt sich gegen das Gitter und dieses gab nach -, kehrt er nach seiner Begegnung mit Thekla in die alte Käfigecke zurück. Dort sitzt er nun wieder und träumt ebenfalls. Von Schritten, die sich entfernen. Er träumt von Thekla. Der Tiger ist spätestens hier zu einem zweiten Protagonisten der Erzählung geworden. 

Er entstammt einem Gehege aus Dassow, einem Ort, gelegen vor der Lübecker Bucht. Dieser Ort befand sich in der DDR bis zum Fall der Mauer im Grenzgebiet, niemand konnte ihn besuchen. Der Tiger 

rotes Gold
umrahmt ihn wie ein Nimbus, Thekla will
diese Erscheinung wieder und wieder
und noch genauer sehen, schließt die Lider

drückt das Gitter nieder. Er befreit sich und schwimmt durch die Trave in westliche Richtung davon. Vom Badetuch kehrt er im Glück zurück.

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Marion Poschmann: Die Winterschwimmerin. Verslegende. Suhrkamp, Berlin 2025, 80 Seiten, 22 Euro.

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Gottfried Timm, geboren und aufgewachsen in Mecklenburg, ehemaliger Pastor und Innenminister in MV, SPD – Mitglied, engagiert sich für den Klimaschutz, ist leidenschaftlich gern auf dem Wasser, lebt in Schwerin.
 

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