von Gerald Ullrich
Internationale Politik interessiert mich und deshalb lese ich regelmäßig zwei politische Zeitschriften, nämlich das amerikanische Fachblatt Foreign Affairs und die Blätter für Deutsche und Internationale Politik („Blätter“). In loser Folge stelle ich hier Beiträge aus einer der beiden Zeitschriften vor. Im Fokus stehen Themen wie Populismus, Migration oder die Krise der Demokratie.
Foreign Affairs, ein Fachblatt zu internationaler und US-Außenpolitik, erscheint seit 1922. Es gilt als wichtiges Medium, in dem regierungsnahe Köpfe ihre Überlegungen und Pläne der Öffentlichkeit präsentieren. Politikwissenschaftler, auch Journalisten und führende Politiker (verschiedener Länder) kommen mit eigenen Beiträgen zu Wort.
Die seit 1956 existierenden „Blätter“ sind die auflagenstärkste politisch-wissenschaftliche Monatszeitschrift im deutschen Sprachraum. Mit eigenem Verlag ist sie unabhängig von Unternehmen, Verbänden und Parteien. Die „Blätter“ verstehen sich als Forum für aktuelle politische Diskussionen.
In der Herbstausgabe der 6x jährlich erscheinenden Foreign Affairs waren gleich zwei Beiträge in dem eingangs erwähnten Sinne lohnend. Einen stelle ich hier vor, der Zweite folgt in Kürze.
Larry Diamond, Politikwissenschaftler an der Hoover-Institution in Stanford, USA, diskutiert in seinem Beitrag die Frage, wie die in vielen Ländern sichtbare Verwässerung und Entkernung von Demokratien sowie der Aufwind autokratischer Regime gestoppt werden könne.
Wahlen nur zum Schein?
Der Kernpunkt seines Beitrags lautet, dass die meisten parademokratischen und offen autokratischen Regime nicht wagen würden, gänzlich auf Wahlen zu verzichten. Zwar fühlten sich die politischen Eliten den konstitutionellen Normen zumeist nicht verpflichtet, sie benutzten aber mehr oder weniger manipulierte Wahlen dennoch dazu, den Schein legitimer Herrschaft zu wahren. Diesen Umstand gelte es, so Diamond, strategisch in den Blick zu nehmen.
Er verweist dafür einleitend auf das Beispiel Bangladesch, wo die seit 2009 zunehmend autoritärer herrschende Präsidentin Yasimi sich habe ins Ausland flüchten müssen. Wahlen sind, so sein Credo, das demokratische Blendwerk von Autokraten, das ihnen aber entgleiten kann, und genau darauf müssten demokratische Kräfte stärker fokussieren. Wie zum Beispiel?
Diamond stellt hier mehrere Aspekte als zentral heraus. Sie erscheinen mir auch dann bedenkenswert, wenn anders als in Bangladesh das Kind noch nicht „in den Brunnen gefallen“ ist. Wenn es also „nur“ darum geht, eine erkennbare Schieflage demokratischer Verhältnisse frühzeitig zu korrigieren.
Kampagnen, Widerstand und Streiks!
Diamond empfiehlt politischen Kräften, die sich für die Bewahrung oder Stärkung der Demokratie einsetzen, erstens, den Fokus auf friedfertigen Widerstand zu legen, um keinen Vorwand für autoritäres Eingreifen zu liefern. Widerstand könne gegebenenfalls z. B. durch Streiks gestärkt werden, die dann auf möglichst breiter Grundlage stattfinden sollten. Man sollte zweitens selbst auf eine (Gegen-) Polarisierung verzichten. Drittens sollte die eigene politische Agenda die Interessen der breiten Masse abbilden (oder mit diesen mindestens kompatibel sein). Kampagnen sollten viertens zu positiver Identifizierung einladen (wozu durchaus auch Nationalstolz gehören dürfe). Fünftens müsse eine Kampagne von der Zuversicht getragen sein (und diese verbreiten), dass man eine Wende schaffen könne. Schließlich solle sechstens deutlich gemacht werden, dass man zu einer starken Führung fähig sei – und dass für starke Führung also kein starker Führer nötig sei.
Diamond verschweigt aber auch nicht, dass je nach Schwächung der Zivilgesellschaft durch die autokratische Entkernung der Demokratie auch Unterstützung von außen von großer Bedeutung sei. Diese sei nicht als direkte Einmischung in die inneren Angelegenheiten gemeint, wohl aber als materielle und ideelle Unterstützung zivilgesellschaftlicher Kräfte, Entsendung von Wahlbeobachtern, oder auch das Angebot zur Vermittlung für den Fall, dass Machthaber trotz verlorener Wahl nicht zurücktreten (wie es in Venezuela der Fall ist).
Mit Blick auf die gerade zerbrochene Ampelkoalition erscheint mir offensichtlich, dass die Performance der Koalition zum Beispiel hinsichtlich der Punkte drei (Interessenlage der breiten Masse), vier (positive Identifizierung) und sechs (starke Führung) diese Empfehlungen von Diamond deutlich verfehlt hat. So stehen Einfallstore für populistische, tendenziell antidemokratische Politik weit offen.
Die Vorstellung des zweiten Beitrags, der das zunächst verblüffend erscheinende Thema haben wird, dass die populistische Welle womöglich bloß eine scheinbare ist, folgt hier in Kürze
Larry Diamond: How to End the Democratic Recession. The Fight Against Autocracy Needs a New Playbook. Foreign Affairs, 22.10.2024