Kommentar zu: „Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren“

von Gottfried Timm

Ich wage es nicht zu glauben, dass Christina Morina, Historikerin, geboren im Jahrzehnt vor dem Herbst ´89 in Frankfurt an der Oder, tatsächlich von zwei deutschen Demokratietraditionen geschrieben haben sollte, wie ich es in der Besprechung von Lange lese. Ein Blick zurück: Die DDR war nach ihrem Selbstverständnis zwar eine „sozialistische“ Demokratie. Das meinte jedoch, dass sie sich als Diktatur des Proletariats verstanden hatte, welches seine Macht mit Hilfe der SED ausübte. Diese wiederum schuf sich dafür den Unterdrückungsapparat des MfS, die Stasi. DDR – Bürger haben auch nicht Briefe wie die Bürgerinnen und Bürger in Westdeutschland, sondern streng formalisierte „Eingaben“ an die staatlichen Stellen bis hin zur Partei- und Staatsführung zu richten gehabt, die etwa Bittbriefen von Untertanen gleichkommen sollten. Gemäß der Verfassung der DDR wurde von der SED ein sozialistisches Menschenbild konstruiert, in das hinein sich die sozialistische Persönlichkeit zu entwickeln habe, in dem, konträr zum Grundgesetz, nicht der Mensch in seiner Freiheit, sondern eben ein Konstrukt im Mittelpunkt stand. Glücklicherweise gab es im Alltag der DDR – Diktatur jedoch eine nicht tot zu kriegende oppositionell – basisdemokratische Unterströmung. Diese „dialektische Wirklichkeit“ zeigte sich unmittelbar vor und nach der Wiedervereinigung in den aufflammenden Elementen der direkten Demokratie, die allerdings „verglüht“ sind, wie der Rezensent zurecht hervorhebt. Heute wird vielfach ein selbstverschuldetes Demokratievakuum in der Gesellschaft beklagt, in das die antidemokratische AfD hineinstößt und sich hierbei ausgerechnet auf den „Wir sind das Volk“ – Ruf beruft. Das Motto aus dem Herbst ´89 ließ das still glimmende Selbstbewusstsein der DDR – Bevölkerung gegenüber „ihrem“ Obrigkeitsstaat überraschend auflodern. Dieses Selbstbewusstsein hatte sich zuvor über vier Jahrzehnte hin auch im gezielt und subtil eingesetzten Begriff des „Bürgers“ bei der Gestaltung seiner „Eingaben“ gezeigt. Denn nicht von aufrechten „Bürgern“, sondern von arbeitenden „Werktätigen“ sollte nach dem Willen der DDR – Obrigkeit alle Macht ausgehen, auf die sich der Arbeiter- und Bauernstaat berief. Der „Bürger“ war verdächtig. Sein Selbstbewusstsein hatte zu oft das sozialistische Menschbild gesprengt. 

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