von Susanne Scherrer
„Johnson hatte mich sofort“ – Charly Hübner über den Autor seines Lebens
Einen passionierteren Botschafter für die Werke Uwe Johnsons als den populären Schauspieler Charly Hübner hätten sich weder der Schriftsteller selbst noch der Suhrkamp Verlag wünschen können. „Wenn du wüsstest, was ich weiß…“ zitiert Charly Hübner Johnson schon im Titel. „Der Autor meines Lebens“, lautet der behauptende Zusatz der 125 Druckseiten umfassenden Hommage an den schreibenden Johnson. Zwei Künstler, zwei Mecklenburger, treffen aufeinander. Der eine pflügt beharrlich die Steine hoch, der andere bestaunt die tiefen Furchen.
Charly Hübner, geboren 1972 in Neustrelitz, erzählt von einem Erweckungserlebnis. Wie er, als frischgebackener DDR-Abiturient infolge des ihn überraschenden Mauerfalls begeistert in die offene Welt stürzend – zu Hause rausfliegt. Der Vater, überzeugter Antikapitalist und Mitwirkender bei der Staatssicherheit, kann die Anziehungskraft der plötzlich offenen Horizonte nicht begreifen. Ihm schwindet gerade der Boden unter den Füßen. Sohn Charly zieht zu Freunden in den Wald und beginnt, angetrieben von dem Wunsch Schauspieler zu werden, zu lesen. Es gibt keine Verbotszonen mehr. Und da „rumsten“ die Jahrestage in sein Leben. „Johnson hatte mich sofort“, beschreibt er die erste Begegnung.
Charly Hübner meint damit Uwe Johnsons Hauptwerk Jahrestage. Beginnend mit dem 20. August 1967 erzählt ein fiktiver Autor in täglichen Eintragungen bis zum 20. August 1968 das Leben von Gesine Cresspahl und ihrer zehn Jahre alten Tochter Marie in New York. Gleichzeitig geht es in Jahrestage um die Geschichte der Familie Cresspahl im Mecklenburg der 1930er Jahre – während der Herrschaft der Nationalsozialisten, in der sich anschließenden sowjetischen Besatzungszone und den ersten Jahren der DDR. Jahrestage endet mit der Invasion der Truppen des Warschauer Paktes in die ČSSR im August 1968.
Charly Hübner selektiert sorgfältig die Passagen aus Johnsons Jahrestage, die ihn betreffen und betroffen gemacht haben und die er absorbiert hat. Seine Affinität zu Uwe Johnsons Hauptwerk begründet er in drei Punkten: die „Tagebuchstruktur“, die ihm erlaubte, das Werk in kleine Etappen aufteilend zu lesen, dann die verschiedenen „Zeitstrukturen“, das New York der 1960er Jahre und das Mecklenburg in den früheren Jahrzehnten des für Deutschland furchtbaren 20. Jahrhunderts, und schließlich der Fakt, dass der Großteil der Jahrestage in Mecklenburg spielt – „in meiner Heimat – quasi um die Ecke“.
Wie nähert man sich Uwe Johnson?
Charly Hübner hat sich die Jahrestage sehr viel später erneut erarbeitet. Zusammen mit Caren Miosga hat er das Hauptwerk Uwe Johnsons als Hörbuch eingelesen. 73 Stunden und 53 Minuten. Aus dieser notwendig gründlichen Befassung erwachsen Erkenntnisse, Vermutungen und Erklärungsversuche.
Neun Zitate hat Charly Hübner herausgesucht und die Abschnitte seines „Büchleins“, wie er es untertreibend nennt, mit „Neun Versuche zu Uwe Johnson“ betitelt. Er geht sofort die verbreitete Klage des Publikums an, dass die Lektüre der Jahrestage mühsam sei: Johnsons langatmige Erzählweise und kompliziert verflochtenen Erzählstränge, seine komplexe und widerborstige Syntax, die plattdeutschen Einsprengsel, die verschrobenen Metaphern – wie käme man da zu der Behauptung, dass Uwe Johnson der größte deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts wäre?
Kann man so sehen. Charly Hübner überläßt Uwe Johnson selbst die Antwort. „Ich habe das Buch so geschrieben, als würden die Leute es so langsam lesen, wie ich es geschrieben habe“, zitiert Charly Hübner den Autor. Und beschreibt seine ihn selbst verblüffende Erfahrung, dass man sich darauf einlassen sollte; denn „Die Langsamkeit ist der Schlüssel zu Uwe Johnson – da entsteht sein Sog.“
Johnson lässt die Menschen sprechen
Bedächtig gelesen entwirren sich die verschiedenen Handlungsstränge. So bildet der Autor Johnson, aus den 1880er Jahren kommend, fast ein ganzes folgendes Jahrhundert ab und zieht von Mecklenburg aus in die Welt bis nach New York und wieder zurück. Und wie kommt man nun der komplexen Sprache bei? Johnson hat nicht nur einen Stil, argumentiert Charly Hübner. „Er portraitierte die Menschen in ihrer Sprechweise, damit in ihrer Denke – (und das ist) für mich der größte Spaß, weil ich die Menschen in Betrachtung und Erleben kennenlerne, so als würde eine Top-Schauspielerin sie mir darstellen.“ Top-Schauspieler – damit erklärt Charly Hübner seine eigene Ambition. Und ist wieder in seinem eigenen Schauspieler-Regisseur-Künstler-Leben angekommen. Uwe Johnson einmal zu spielen, das wünsche er sich, gesteht er ein.
Charly Hübner lässt einige schockierende Umstände aus Uwe Johnsons Leben weitgehend unbeachtet. Er spricht nicht über den Johnson, der krankhaft misstrauisch war und seine Frau Elisabeth schließlich in die Flucht trieb. Der mit knapp 50 Jahren von einem Übermaß an Medikamenten und Alkohol geschwächt in völliger Vereinsamung starb. Eher widmet er sich dem verunsicherten Jungen, dessen Vater in einer chaotischen Zeit des Zusammenbruchs nach Kriegsende deportiert wird. Wurde er denunziert? Die Fragen des Sohns nach dem Vater bleiben unbeantwortet.
Wahrheitssuche als zentrales Motiv
Daraus leitet Charly Hübner Johnsons eiserne und unbeirrbare Suche nach dem ab, was geschah, wie es dazu kam und was vorher war. Wahrheitssuche entwickelt sich zu einem zentralen Begriff. Uwe Johnson, so erkennt Hübner, will Begebenheiten und historische Kipppunkte aus allen Perspektiven erzählen. Er referiert Geschehnisse als unerbittlich genauer Chronist, zitiert die New York Times und bemüht Statistiken. Aber er begibt sich mitten hinein in eine Grauzone, die sich aus dem Gewirr der Stimmen ergibt. Charly Hübner lässt seine Leserinnen und Leser teilhaben an seinen eigenen Aha-Erlebnissen über die Johnsonsche „Vielfältigkeit der Wahrheit“, die nur dann akzeptabel ist, wenn sie auf Genauigkeit der Recherche beruht.
Ich hätte gern die Frage hinzugefügt: Gibt es eine Wahrheit ohne moralischen Anspruch, ohne Fundament? Damit ringt Uwe Johnson zeitlebens.
Aus seiner Schreibstube heraus in einem Hinterhof in Hamburg-Altona im Winter 2023/2024 denkt Charly Hübner gegen Ende des Büchleins nach über die aktuellen Menschheitskrisen: Krieg in der Ukraine, Krieg in Gaza, bei uns Gewalt gegen demokratisch gewählte Politikerinnen und Politiker, der immer hasserfülltere Kampf der gesellschaftlichen Milieus gegeneinander, die staatliche Zensur an Ungarns Theatern. „Die Ordnung, die vor dreißig Jahren mit dem Ende des Kalten Kriegs begann, ist auf dem Prüfstand“, so drückt Hübner es aus, vorsichtig. Und schlägt vor, bei Johnson nachzuschauen. Wie war das in Mecklenburg, im fiktiven Jerichow, am 6. März 1933, dem Tag nach der nationalsozialistischen Machtübernahme? „Wenn du wüsstest, was ich weiß…“ und man begreift, warum Charly Hübner sich in Johnsons Texten verhakt hat.
Spätestens hier lassen sich Interessierte nicht länger von dem wie gewohnt lockeren und plaudernden Tonfall des Erzählers Charly Hübner täuschen. Es wird ernst. Sein sympathisches Understatement und die Ironie, mit der er sich selbst betrachten kann, verdecken nicht, dass sich hier einer gründlich und nachdenkend mit den ganz großen Fragen von Literatur und Leben befasst hat.
Charly Hübner liest in Schwerin
Am 29. November 2024 trägt Charly Hübner in Schwerin aus seinem „Büchlein“ vor. Christoph Bungartz, NDR Kultur, wird moderieren. Ob das Publikum neugierig ist auf die Bekenntnisse Charly Hübners zu Uwe Johnson? Oder interessieren sich die Schwerinerinnen und Schweriner vielleicht vor allem für den Mecklenburger Charly Hübner selbst, der biographische Parallelen zu Uwe Johnson offenbart? Egal. Die Lesung im Foyer des Mecklenburgischen Staatstheaters ist längst ausverkauft. Der NDR hat schnell reagiert und sendet am 23. Februar 2025 um 20:00 Uhr im NDR „Sonntagsstudio“ eine Hörfassung der Veranstaltung, die hoffentlich wie immer in der Mediathek abrufbar sein wird.
Kurzbiographie: Uwe Johnson, geboren 1934 im heutigen Kamień Pomorski, zieht kriegsbedingt vaterlos geworden 1946 nach Güstrow und beginnt 1952 ein Studium der Germanistik in Rostock. Seinen ersten Roman „Mutmaßungen über Jakob“ kann er in der DDR nicht veröffentlichen – der Suhrkamp Verlag bringt das Buch 1959 heraus. Johnson folgt seinem Werk in den Westen, erlangt Anerkennung, auch mit seinen folgenden Arbeiten, heiratet 1962 Elisabeth Schmidt, eine ehemalige Leipziger Mitstudentin, die mithilfe einer Fluchthelferorganisation die DDR verlassen hat. Eine Tochter wird geboren. „Schriftsteller beider Deutschlands“ ist ein ihm oft zugeschriebenes Etikett, das er ablehnt. Er geht weiter weg nach Westen, bis nach New York. Sein Hauptwerk Jahrestage erscheint in mehreren Bänden in schneller Folge Anfang der 1970er Jahre. Zurück in Westdeutschland fühlt sich dort nie heimisch und zieht 1974 auf eine Themse-Insel nahe London. Mit großer Mühe beendet er den letzten Band der Jahrestage. Seine Ehe zerbricht an seinem pathologischen Misstrauen. Johnson stirbt 1984, isoliert, vereinsamt, alkoholkrank. Seine Leiche wird erst Wochen später gefunden.
Charly Hübner: „Wenn du wüsstest, was ich weiß…“ – Uwe Johnson – Der Autor meines Lebens. Suhrkamp Verlag, 2023. 125 Seiten, EUR 20,00.
Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Hörbuch. Ungekürzte Lesung mit Charly Hübner und Caren Miosga. Der Audio Verlag, basierend auf dem Text des Suhrkamp Verlags. 2023. 8 mp3-CDs, ca. 73 Stunden und 53 Minuten. Empfohlener Verkaufspreis EUR 60,00.
Jahrestage. TV-Spielfilm. Nach dem Roman von Uwe Johnson. Deutschland 1999/2000 Regie: Margarethe von Trotta. Drehbuch Christoph Busch und Peter Steinbach. 4 × 90 Minuten. U. a. mit Suzanne von Borsody, Marie Helen Dehorn, Matthias Habich und Axel Milberg. Filmedition Suhrkamp.
Uwe Johnson: Jahrestage 1–4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Vier Bände, Broschur und als E-Book, Suhrkamp Verlag, aktuelle Auflage 2021. EUR 48,00. Gibt es auch gebraucht bei verschiedenen Anbietern.
Literaturhaus „Uwe Johnson“ in Klütz/ Mecklenburg.