In Folge II unserer Reihe „Perlen der Ostsee – eine musikalische Schatzsuche“ stellt Til Rohgalf die CD „Arboles llan por lluvia“ der Tonschöpferin Helena Tulve vor.
Helena Tulve, 1972 in Tartu geboren, ist eine estnische Komponistin, die für ihre experimentellen und atmosphärischen Werke bekannt ist. 2014 erschien auf dem renommierten ECM-Label ihr Album „Arboles Ilan por Iluvia“. Aufgenommen wurden die fünf Stücke in verschiedenen Kirchen sowie der Estnischen Konzerthalle in Tallinn. Helena Tulves experimentelle Kompositionen zeichnen sich durch vielseitige Klangfarben, organisch entfaltende Strukturen und fein abgestimmte Klangschichten aus1. Die einzelnen Stimmen folgen in ihren Kompositionen vielfach ihrem individuellen Tempo und Metrum. Klangliche Reduktion und Stille als stilistische Mittel unterstreichen die introspektive und meditative Wirkung der Musik. „Arboles llan por lluvia“ knüpft stilistisch an ihr 2008 bei ECM erschienenes Album „Lijnen“ an.
Der Text der 2005 geschriebenen Komposition „Reyah hadas ’ala“, des ersten Stückes auf dem Album, stammt von Shalo Shabazi, einem jemenitischen Rabbiner, Dichter und Mystiker. Mystisch trägt auch der weitgehend einstimmige, archaisch wirkende Gesang dieses Stück. Er ist den Gesängen jemenitischer Juden entlehnt. Der instrumentelle Klangteppich mäandert um die Gesangsstimmen. Atonale Melodiefetzen dominieren, Tonfolgen arabischer und jüdischer Tradition schimmern in Andeutungen hervor.
Klanglich zurückgenommener und fragiler stellt sich danach die Komposition „silences/lames“ (2006) für Sopran, Oboe und gestimmte Gläser dar. Wieder ist die Gesangsstimme das leitende Element. Im zweiten Teil wird deren Spektrum durch Flüstern dramaturgisch erweitert. Oboe und Stimme scheinen sich tastend zu umschleichen, ohne sich jedoch gänzlich zu treffen oder eine klare Einheit zu bilden.
Für „L’Équinoxe de l’âme“ greift Tulve auf eine Erzählung des Sufi-Mystikers Shabab al-Din Suhrawardi (1155–91) zurück. In dieser Komposition entfalten Sopran, Tripelharfe und Streichquartett ein weites dynamisches Spektrum, das von plötzlichen unisono-Ausbrüchen bis zu zarten Harfen- oder Streicherklängen die Grenze der Hörbarkeit erreicht.
Gedichte, Klangteppiche und Chorgesänge
Der Name des nachfolgenden Stückes, „Arboles Iloran por Iluva“, auf Deutsch „Bäume rufen nach Regen“, ist der Beginn eines sephardischen Gedichts. Stilistisch knüpft es an die Stücke davor an: komplexe, sich windende Klangteppiche, Sopranstimme und der Chor des Vox Clamantis, der bereits im ersten Stück zu hören war. Aufhorchen lässt der Einsatz der Nyckelharpa (oder Schlüsselfidel), der Akzente setzt.
Für das abschließende Orchesterstück „Extinction des choses vues“ ließ sich Tulve von dem französischen Jesuiten und Kulturphilosophen Michel Certeau inspirieren. Dessen beschriebene „Auslöschung der sichtbaren Dinge“ durch die religiöse Erfahrung wird musikalisch aufwühlend und kathartisch nachvollzogen. Das Stück endet nach 11 Minuten der Spannung und der dynamischen Ausbrüche in hellen, filigran-schwebenden Tönen.
Es ist diese mystisch-transzendente Aura, die Einbettung alter Traditionen und archaischer Elemente in eine moderne Klangwelt, ohne bloß zu zitieren oder in Weltmusik abzudriften, die Helena Tulves Kompositionen so spannend macht. Es ist ratsam, diesem komplexen Album beim Hören etwas Zeit zu geben, um sich ganz zu entfalten.
Til Rohgalf studierte Sonderpädagogik, Philosophie und Geschichte (M.A.), er ist im Schuldienst tätig, musikbegeistert und musikalisch aktiv. Ihn interessieren politische, kulturelle und geistesgeschichtliche Themen.
- Von Helena Tulve sind beim Estonian Music Information Centre (EMIC) “Eesti Muusika Infokeskus” weitere Aufnahmen erschienen. ↩︎