von Matthias Lange
Ein amerikanisches Kaleidoskop
Nicht erst seit der Wiederwahl Donald Trumps als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika lohnt der Blick über den Atlantik: Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, als sich die Kolonien Neuenglands vom Mutterland emanzipierten und ihren windungsreichen Weg als das begannen, was heute als USA bekannt und einflussreiche Größe in der Welt ist, hat es intellektuelle Begegnungen gegeben, die das USA-Bild anderswo geprägt haben – von Alexis de Toqueville über Max Weber bis zu den global Reisenden des 20. Jahrhunderts: Ihre Bücher füllen Bibliotheken. In die Diskussion der Gegenwart hat sich nun mit Karl Schlögel, ehemals Professor an der Viadrina in Frankfurt/Oder, ein Spezialist der osteuropäischen, insbesondere russischen und sowjetischen Geschichte eingeschaltet. Unter dem Titel „American Matrix“ hat er bei Hanser eine voluminöse Studie vorgelegt.
Ein Russland- und Sowjetunion-Kenner und Amerika? Was zunächst Fragen aufwirft, wird im Verlauf der Lektüre immer plausibler. Neben das persönliche Erleben Schlögels in jungen Jahren tritt die Einsicht, dass die USA und die Sowjetunion im 20. Jahrhundert bei aller Verschiedenheit Gesellschaften waren, die aus Natur und Stahl, aus Energie und industrieller Entwicklung, nicht zuletzt aus riesigen Aufbauleistungen hervorgegangen sind. Verblüffend ist zudem die zeitliche Parallelität vieler großer Etappen auf diesem Weg: Der Hoover-Damm und Dnjeproges sind historisch unmittelbar benachbart. Beide Gesellschaften waren in den ersten Jahrhunderten des 20. Jahrhunderts – auf grundverschiedene Weise – junge, im Aufbruch befindliche Formationen, im starken Gegensatz zu den alten europäischen Nationen. Doch sucht Schlögel in den USA nicht nach parallelverschobener Sowjetgeschichte: In 28 Kapiteln leuchtet er auf gut 800 Seiten den amerikanischen Weg aus der Binnenperspektive aus. Und das, typisch für den Autor, aus mannigfaltiger Perspektive.
Ausgehend vom eigenen Erleben, von Erstbegegnungen verschiedener Art, schöpft er aus so ziemlich jeder ergiebigen Quelle, die sich ihm bietet, weit über die klassische Literaturarbeit hinaus: Er konsultiert Adressbücher, Stadtpläne und Kataster der Vermessung Amerikas, staunt sprachlos am Grand Canyon, analysiert Produktionszahlen von Stahl und Automobilen, sieht sich auf industriellen Leistungsschauen und Weltausstellungen um, lobt die zivilisatorische Kraft einer kultivierten Warteschlange, betrachtet Bevölkerungsbewegungen, denkt über gebaute Fernstraßen und zurückgelegte Flugmeilen nach, folgt den historischen Eisenbahnstrecken, die – je nach Perspektive – das Land westwärts erschlossen oder es in seiner bisherigen Form zu Lasten der indigenen Bevölkerung rauben halfen. Schlögel folgt den Wegen der Exilanten, die in den USA zu verschiedenen Zeiten Schutz fanden, geht über die Mall in Washington D.C. mit ihren prachtvollen Museumsbauten, setzt sich ins Baseballstadion mit seinen prägnanten Dynamiken, flaniert durch die ersten großen Shopping Malls, folgt der „Color Line“ und W.E.B. Du Bois in die Abgründe des Rassismus und der Sklaverei oder fragt sich, ob die allgegenwärtigen Motels vielleicht die Karawansereien des 20. Jahrhunderts seien. Und am Schluss, nach Betrachtungen zu Frank Lloyd Wrights Suche nach der amerikanischen Form, fügt Schlögel all das nicht zusammen.
Auf den ersten Blick scheint das ein überraschender Mangel. Doch liegt genau darin ein Geheimnis des Autors, das schon frühere Bücher wie „Terror und Traum. Moskau 1937“ oder „Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt“ so magisch machte: Einen Gegenstand aus vielfältigster Perspektive anzuschauen, auch noch aus der unwahrscheinlichsten, darauf vertrauend, dass sich diese Vielheit im Auge des Betrachters zu einem Ganzen fügt. Verlässlich tut sie das bei Schlögel, freilich bei aufmerksamer und geduldiger Lektüre.
Kein Hagiograph amerikanischer Größe
Doch agiert Karl Schlögel in seinen Betrachtungen keinesfalls als bloßer Hagiograph amerikanischer Größe. Neben den angesprochenen Themenkreisen widmet sich der Autor ausführlich auch der großen Katastrophe, die die Besiedlung Nordamerikas durch weiße Europäer für die indigene Bevölkerung darstellte und die in ihren Details noch heute sprachlos macht: Die unfassbare Dezimierung der Bevölkerung durch Krankheiten und Gewalt, durch Deportationen, Unterdrückung und Entrechtung, aber auch durch all das, was die weißen Siedler und ihre entstehende Gesellschaft als Erfolge sahen und teils bis heute sehen – die Urbarmachung scheinbar herrenlosen Landes einschließlich betrügerischer Enteignung, die Erschließung des weiten Raumes durch den Bau zahlreicher Eisenbahnlinien und die damit verbundene Zerteilung einst zusammenhängender Weideräume für die riesigen, den indigenen Stämmen Leben spendenden Büffelherden bis zu deren Auslöschung und manches andere. All das machte eine fatale Entwicklung unumkehrbar. Im Zusammenhang mit den indigenen Nationen Kaliforniens, die in einem vergleichsweise überschaubaren Zeitraum während des Goldrauschs nahezu ausgerottet wurden, ist in kritischen Publikationen von einem „American Genocide“ die Rede. Was hier und anderswo geschah, lässt sich nur als brutale, menschenverachtende, allen selbstgegebenen Prinzipien der jungen amerikanischen Gesellschaft widersprechende Auslöschung der indigenen Bevölkerung bezeichnen, die schlicht als minderwertig betrachtet und deren bloßes Existenzrecht in Abrede gestellt wurde.
Nicht zufällig steht die Eröffnung des National Museum of the American Indian im Jahr 2004 nach Jahrzehnten der vorbereitenden Auseinandersetzung zeitlich fast am Ende einer langen Reihe von umfassenden Präsentationen in der US-amerikanischen Hauptstadt Washington. Ebenso wenig überraschend und zugleich bezeichnend für den langsamen Vollzug der innergesellschaftlichen Debatte ist, nebenbei bemerkt, dass mit seiner Eröffnung 2016 das National Museum of African American History and Culture noch später in den Kreis der Washingtoner Mall aufgenommen wurde.
Der Stil und die Frage, was das Buch ist
Prägend für den Argumentationsstil Karl Schlögels ist es, anderen Denkern und deren Hervorbringungen zu vertrauen: Natürlich sind die schon angesprochenen Autoren Toqueville und Weber zu nennen, dazu der Geograf Friedrich Ratzel, sowjetische Künstler und Wissenschaftler, W.E.B. Du Bois oder Frederick Douglass, der die Doppelmoral des christlichen Amerika in der Frage der Sklaverei scharf und wortgewaltig attackierte. Und auch da, wo Schlögel nicht ganze Kapitel mit den Sichtweisen bedeutender Autoren bestückt, zitiert er ausführlich und belesen, gibt er klugen Stimmen uneitel Raum. Seine Sprache schwingt ruhig aus, unalarmistisch und mit einer feinen, altmodischen Patina, scheut stille Größe nicht, gibt darin der eigenen Faszination erkennbar Raum, auch dem Erstaunen oder Unverständnis.
Nach der Lektüre wird sich vermutlich nicht der eine, auf eine Sichtweise zugespitzte Eindruck einstellen, der alles überwölbt: Es ist ein Buch, eine Konzeption für die mündige Leserschaft. Wer erkenntnissatt und um Einsichten bereichert aus der Lektüre herausgehen möchte, muss aktives Mitdenken investieren. Auch die Frage, was Schlögels „American Matrix“ denn nun sei – ob die von ihm in einem zentralen Kapitel diskutierte zivilisatorische Vermessung und Kartierung des Kontinents oder doch eher die Gesamtheit der in seinem Buch angesprochenen Einzelaspekte –, wird man nicht für jede Lektüre gleich beantworten können.
Gewiss ist: Wer einen handlichen USA-Führer sucht, ist mit Schlögels Buch schlecht beraten. Auch, wer sich gültige Erklärungen im Gestrüpp der Aktualität erhofft, wird hier nicht alle Fragen beantwortet finden. Wer aber nach den Grundlagen sucht, nach dem, was die USA prägt, was die Gesellschaft tief im Innern ausmacht, der bekommt hier viele Deutungsansätze an die Hand, kann vielen Fährten folgen. Und es ergibt sich – idealerweise in Verbindung mit ein wenig eigener Anschauung – das Bild eines widerspruchsvollen, kraftbegabten Landes mit tatsächlich fast allen Möglichkeiten, und das in jeder nur denkbaren Hinsicht.
Ein Buch, das sehr viel mehr ist als nur leicht verwehende Zeitanalyse: Ein Buch, das echte Grundlagen bietet. Dazu ein gelehrtes Lesevergnügen, das Karl Schlögel als ein Phänomen eigenen Rangs in der öffentlichen Debatte in Deutschland bestätigt. Schlögel hat mit „American Matrix“ seine Osteuropaschwerpunkte souverän überschritten und bemerkenswert mühelos einen Akzent in der hochaktuellen Frage gesetzt, wie man die USA verstehen kann.