Umlaufbahnen von Samantha Harvey

von Manja Wittmann

Wenn man den Roman aufblättert, findet man zunächst eine Grafik mit einer ausgebreiteten Weltkarte, darüber eingezeichnet schön abgezirkelte Bahnen. Sie zeigen den Verlauf von 24 Stunden in der Erdumlaufbahn. Zuerst versteht man nur (Weltraum-)Bahnhof, aber je tiefer man in das Folgende einsteigt, desto hilfreicher wird diese Übersicht. 

Wir befinden uns auf der Internationalen Raumstation ISS. Vier Astronauten, zwei Männer und zwei Frauen, sowie zwei männliche Kosmonauten sausen in 400km Höhe auf einer festgelegten Umlaufbahn sechzehn Mal am Tag um die Erde. Ständig gibt es neue Sonnenauf- und Sonnenuntergänge. Damit der menschliche Organismus im Rhythmus bleibt, existiert eine eigene Zeit in der extraterrestrischen Kapsel. Einen ganzen Tag lang lässt die britische Autorin Samantha Harvey uns mit ihnen um die Erde fliegen.

Dabei kommt sie ihren sechs Protagonisten sehr nahe, gibt viel von deren Gedanken und Empfindungen preis. Erstaunlicherweise verzichtet Samantha Harvey auf eine klassische Handlung. Es gibt keine Konflikte zwischen den Menschen an Bord, alle bleiben professionell und auf Distanz zueinander. Nur wir Leserinnen und Leser werden eingeweiht in die persönlichen Schicksale der Einzelnen, die es in dieser außergewöhnlichen Situation zu bewältigen gilt. Doch der riesige Abstand zu allem Irdischen lässt immer wieder neue Betrachtungsweisen entstehen. Distanz bringt Klarheit. 

Alle sind sich unentwegt dessen bewusst, dass sie sich in der Enge der Raumstation und in der immer wieder als merkwürdig empfundenen Schwerelosigkeit in einer kaum zu begreifenden Situation befinden. Deshalb sind sie dann doch im Stillen sehr verbunden miteinander.

Hauptfigur: Erde!

Die eigentliche Hauptfigur ist aber eindeutig die Erde. Sie wird von allen so oft wie möglich mit Begeisterung betrachtet. Tagsüber sind natürlich die Bewohner des Planeten unsichtbar, im Gegensatz zu angsteinflößenden Wetterphänomenen wie einem Taifun beispielsweise. Aber sobald es Abend wird, sind die Lichter ein erkennbares Zeichen für bewohnte Gegenden.

In einer bisweilen poetischen Sprache werden die existentiellen Fragen der Menschheit mit außerordentlicher Leichtigkeit reflektiert. Die Gefährdung unseres Planeten durch die Unachtsamkeit oder gar Zerstörungswut des Menschen wird thematisiert, jedoch keineswegs aufdringlich. Die Kostbarkeit unseres fast frei im All schwebenden Planeten ist permanent spürbar. Offensichtlich hat die Autorin akribisch recherchiert, denn durch die vielen oft überraschenden Details oder beiläufige Erwähnung von kleinsten technischen Abläufen bekommt man selber fast das Gefühl, mit an Bord der ISS-Raumkapsel zu sein. 

Durch die aktuelle Berichterstattung über zwei amerikanische Astronauten, die neun Monate länger als vorgesehen auf der ISS bleiben mussten und erst vor kurzem zur Erde zurückkehren konnten, ist das Thema Weltraumforschung mitsamt den Grenzen des Machbaren sehr präsent. Aber nicht nur deshalb sind dem im November 2024 auf Deutsch erschienenen Roman viele Leserinnen und Leser zu wünschen. 

Samantha Harvey wurde im vergangenen Jahr mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Die überaus gelungene, elegante Übersetzung von Julia Wolf war für den Preis der Leipziger Buchmesse 2025 nominiert.

Samantha Harvey „Umlaufbahnen“, dtv, 224 Seiten übersetzt von Julia Wolf, 22 Euro

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Manja Wittmann ist Bücher-Lotsin des Kulturkompass-MV und wird uns in alle möglichen Himmelsrichtungen literarischer Neuerscheinungen führen. Sie ist Buchhändlerin in München. Manja hat lange in der Film-und Fernsehbranche gearbeitet und wird uns beim Kulturkompass-MV auf ihre literarischen Favoriten hinweisen und spannende Sachbücher empfehlen. Sie kommt aus Schleswig-Holstein und da wundert es nicht, dass der Schwerpunkt auf Büchern liegt, die mit dem Meer zu tun haben oder von nord- bzw. ostdeutschen Autor*innen stammen.

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