Widerstehen – Ich mache es anders! 

von Gerald Ullrich

Vor wenigen Tagen erschien in der Hamburger Edition das Buch „Widerstehen“. Darin geht es nicht um mühsam abgerungenes Verzichten, etwa auf ein weiteres Glas Wein, oder den Griff zum ständig rufenden Smartphone oder dem Widerstehen gegenüber anderweitigen Versuchungen. Der Untertitel, nämlich „Versuche eines richtigen Lebens im falschen“, weist vielmehr auf eine ganz andere Dimension des Widerstehens hin, die wir eher mit der substantivischen Form assoziieren, also dem Widerstand, als mit der Verbform. 

Der Autor, Ferdinand Sutterlüty, ist ein in Frankfurt lehrender Soziologe, der vertretungsweise von 2019 bis 2021 im Direktorium des Hamburger Instituts für Sozialforschung arbeitete, wo man in jener Zeit Fragen des „verdeckten Widerstandes“ in liberalen Demokratien intensiv diskutiert hat. In „Widerstehen“ geht es Sutterlüty darum, Fragen von damals auf empirischem Wege auszuleuchten, nämlich „warum es verdeckten Widerstand auch in demokratischen Gesellschaften gibt, in denen doch prinzipiell alles kritisierbar und der öffentlichen Diskussion zugänglich sein sollte“. Sutterlüty will mit „ethnografischen Methoden“ herausfinden, „aufgrund welcher Regularien und Machtverhältnisse sich Menschen dennoch gezwungen sehen, im Verborgenen zu agieren, um Zuständen entgegentreten zu können, die sie für untragbar halten“. Daher „Versuche eines richtigen Lebens im falschen“ als Untertitel dieses Buchs. Der spielt im Übrigen auf einen apodiktischen Ausspruch Theodor W. Adornos an, dem Mitbegründer der sogenannten Kritischen Theorie, wonach es „kein richtiges Leben im falschen“ gebe. 

Der Soziologe Ferdinand Sutterlüty (Foto:@Moritz Manns)

Sutterlüty bezeichnet sein Buch als einen „ethnografischen Reisebericht“, nämlich zu ausgewählten Personen, von denen er sich in nur lose strukturierten Interviews berichten lässt, welche alltäglichen „Widerstandspraktiken“ sie betreiben. Gemeinsam sei den ausgesuchten Interviewpartnern, so Sutterlüty im Vorwort, „dass sie die gesellschaftlichen Zustände, in denen sie leben, zutiefst ablehnen. Sie kritisieren nicht nur, sondern stehen auch existenziell für ihre Position ein.“ Sie zeigten, so Sutterlüty, „dass es Alternativen zu den eingelebten Denkmustern und Gewohnheiten der kapitalistischen Kultur“ gebe.

In acht Kapiteln taucht die Fragestellung nach dem „verdeckten Widerstand“ auf unterschiedliche Weise auf, denn jedes Kapitel ist einer der interviewten Personen gewidmet. So lernt man einen Musiktherapeuten kennen, den es zunächst aufs Mittelmeer und anschließend in die Beratung Geflüchteter verschlagen hat. Oder eine gebürtige Polin, die nach einem längeren Arbeitsaufenthalt in Italien nun in Deutschland als Putzkraft in Hotels zurechtkommen muss – und dort den Kolleg:innen ebenso wie den Vorgesetzten zeigt, dass man auch unten in der sozialen Hierarchie den Kopf oben tragen kann und sich nicht alles bieten lassen muss. Oder eine Forstbeamtin, die in einer von Männern dominierten Sparte den Mut hat, Ungerechtigkeit durch juristische Klage gegen die Arbeitgeber anzuprangern und zu überwinden. Daneben auch verschiedene Künstler:innen, die Lebensform, Kunst und Widerstand zu einer Art Einheit werden lassen. Schließlich auch ein „Bergbauernpaar“, das sich gegen die (vermeintlichen Sach-)Zwänge konventioneller Landwirtschaft entschieden hat und einen Hof betreibt, der auf Selbstversorgung ausgerichtet „und in alte gemeinwirtschaftliche Strukturen eingebettet“ ist. 

Das Buch enthält wenig mehr als die jeweiligen Interviews, die aber eine große Bandbreite beleuchten und keineswegs nur „heroische“ Taten illustrieren, die aus der Perspektive des „Normalbürgers“ völlig fern der eigenen Realität erscheinen mögen. Letzteres könnte wohl der Fall sein bei einer Entscheidung, sich auf eines der Boote zu begeben, mit denen im Mittelmeer Menschen gerettet werden sollen. 

Die Interviews sind sehr gut lesbar, es handelt sich also nicht, wie sonst oft bei soziologischer Literatur, um einen mühsamen, schwer verdaulichen Text.
Für wen ist das Buch mit Gewinn zu lesen? Für alle, die einen etwas genaueren Blick auf die Randbereiche unseres gesellschaftlichen Lebens wagen wollen. Sei es aus allgemeinem Interesse, sei es auf der Suche nach Anregungen, wie das eigene, grundsätzliche Unbehagen am Leben vielleicht doch einen besseren Ausdruck finden kann. 

Aus akademischer Hinsicht ist das Buch hingegen eine Enttäuschung. Weder erfährt man, wie es zur Auswahl der interviewten Personen gekommen ist, noch liest man an irgendeiner Stelle, welche Antworten auf die forschungsleitenden Fragen der Autor selbst in den Interviews sieht. Stattdessen heißt es im Vorwort lediglich, dass dem Buch zu den Ausgangsfragen „einiges zu entnehmen sein“ sollte. 

Ferdinand Sutterlüty „Widerstehen: Versuche eines richtigen Lebens im falschen“
erscheint im Verlag „Hamburger Edition“, Hamburg, Februar 2025, Gebunden, 206 Seiten, 19 Euro.

Gerald Ullrich, Jahrgang 1959, seit 2005 mit seiner Frau in Schwerin lebend, eher natur- als kulturbegeistert, aber wenn es um Politik und Gesellschaft geht, ist sein Interesse zumeist groß. Als Psychotherapeut gilt seine berufliche Aufmerksamkeit allerdings dem Einzelnen. Er betreibt mit seiner Frau auch einen eigenen Blog.

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