Mecklenburg – wie es einmal war

vorgestellt von Gottfried Timm

Da muss man Gummistiefel tragen, am besten mit warmen Socken. Sonst ist auf diesem lehmigen Feldweg kein Durchkommen. Schmale Spuren von Speichenrädern ziehen sich an den Modderlöchern entlang, zwischen ihnen die Abdrücke von Pferdehufen. Seitlich etwas breitere Profilreifen, ein Auto muss es den rutschigen Hang hinaufgeschafft haben. Ein anderes Auto fuhr von oben hinunter und blieb beim Umfahren der Pfützen liegen, im Frühherbst, als die Äcker gerade umgebrochen wurden. Dessen Vorderachse ist zerbrochen, es war für mecklenburgische Verhältnisse vor einhundert Jahren nicht gebaut. 

In den Kleinstädten läuft man über Kopfsteinpflaster. Gerne würde ich den Vater begleiten, der einen Bollerwagen zieht, in dem sich Kinder tummeln. Das Klöttern der eisenbeschlagenen Räder mischt sich mit dem hellen Ton einer Handglocke, die der „Utrauper“ (Ausrufer) vor dem Rostocker Tor in Ribnitz schwingt. Der Bildband Das alte Mecklenburg zeigt einen älteren Herrn mit Bauernhut in einer hochgeknöpften Joppe vor dem backsteinernen Stadttor, der, konzentriert über einen Zettel gebeugt, mühsam eine Nachricht vorträgt. Umringt von einem neugierigen Publikum fasziniert er Jung und Alt. Aber man weiß nicht recht, was die Schaulustigen anzieht. Ist es die Mitteilung des Ausrufers oder nicht vielmehr die unterhaltsame Gestalt dieses Boten selbst – in einer ansonsten wohl eher abwechslungsarmen Welt am Saaler Bodden?

Auf diesem treibt bei mildem Wind ein Zeesboot querab. Gaffelgroß, Fock und Klüver stehen back, damit das flache Schiff keine Fahrt voraus machen kann. Auf dem Deck des Bootes halten zwei Fischer die Leinen still in ihren Händen, an denen das Netz über den Grund des Boddens gezogen – gezeest – wird. Die Ribnitzer waren auf Aalfang aus, aber auch Hecht, Barsch und Plötze wurden reichlich gefischt. Erstaunlich, wie das Zeesboot mit Mast und Klüverbaum als Motiv nach der Regel des goldenen Schnittes ins Bild gesetzt ist. Der Warnemünder Fotograf Karl Eschenburg zog vor knapp einhundert Jahren durch Mecklenburg. Er suchte nach Motiven, die typisch für den Alltag seiner Zeit waren. Man spürt an seinen Portraits, wie das Interesse des Fotografen an den Leuten vor der Kamera auf diese überging und sie ihrerseits den Betrachter hier aufmerksam, dort erstaunt anschauen. Oder verschmitzt zur Seite blicken wie der Bauer auf dem Melkschemel zwischen den Kühen. In den Fotos kommen uns Menschen nahe, denen in langen Lebensjahren so einige Furchen vom Wind und von der Sonne in die Gesichter gegerbt worden sind. 

Eschenburg schien bewusst vom Alltagsleben festhalten zu wollen, was durch Modernisierung und fortschreitender Zivilisation in absehbarer Zeit vergessen sein wird. Den Warener Gymnasiallehrer Richard Wossidlo hat der Fotograf vor seinen bis zur Zimmerdecke aufragenden Zettelkästen abgebildet. Dieser Freund der mecklenburgischen Riemels un Lüüd´snack hat sich auf unermüdlichen Wanderungen unter die Dorflinden oder an die Bootsstege gesetzt und für uns Heutige aufgeschrieben, was Fischer, Bäuerinnen, Lehrer und Marktfrauen erzählt haben – und er soll, wie es im Volksmund hieß, im Vorübergehen manches sogar auf seiner Manschette am Ärmel festgehalten haben. Die fischenden Zeesboote prägten über Jahrhunderte das Leben am Saaler Bodden. Heute werden die Schiffe aufwändig für das Freizeitsegeln erhalten, einen Fang bringen sie nicht mehr heim.

Die kontrastreichen Fotos in Schwarzweiß sind in diesem bestaunenswerten Bildband literarisch von Texten des mecklenburgischen Dichters Jürgen Borchert gerahmt. Dieser ist den Wegen von Eschenburg nachgegangen und unterwegs tief in die kulturelle und geologische Geschichte dieses „dem Herzen und der Seele unerschöpfliche Quellen der Erbauung und Sinnesfreude (bietenden Landes)“ eingetaucht. „Der Mensch nahm diese Urlandschaft in seine Kultur … und blieb mit diesen seinen Tätigkeiten bis zu jenem Zeitpunkt, als Eschenburg seine Bilder schuf, noch im Maße des für ihn, den Menschen selbst, beglückenden Bewusstseins, sich mit der Schöpfung in Einklang zu wissen.“ 

In „Dorf Mecklenburg“ schreitet eine Bäuerin unter einer uralten Kastanie dem Betrachter entgegen. Auf ihren Schultern trägt sie ein Joch, an dem zwei Milchkübel schwer herunterhängen. Gewiss bringen sie gefüllt mehr als einen halben Zentner auf die Waage. Hinter dem Misthaufen ein Huhn, davor setzt ein Hund zum Sprung an, der Bauer trägt zwei Zinkeimer über den Hof. Im Hintergrund des Bildes das große Bauernhaus mit breitem Tor, in das die Fuhrwerke eingefahren sind. Es ist ein Hallenhaus, an dessen Giebel soeben die Bracke abgelegt wurde, von den Mecklenburgern als Wacht bezeichnet, mit der die Pferde vor den Wagen oder vor den Pflug gespannt gewesen sind. 

Die Bäuerin schreitet selbstbewusst aus. Dennoch wird sich der Betrachter seine eigene Meinung darüber bilden wollen, in welchen Winkeln der vergangenen Welt, von der die Fotos dieses Bandes erzählen, es ein beglückendes oder ein bedrückendes Alltagsleben gegeben haben wird. In ihnen wird das ländliche Mecklenburg zwischen Gutshäusern und den zu diesen gehörenden üppigen Parkanlagen einerseits und dem an die Erde gebundenen bäuerlichen Leben auf der anderen Seite ausgebreitet. Die Modernisierung des Landes hat auf Mecklenburg erst ansatzweise zugegriffen. Und so hielt der Fotoreisende Eschenburg zwar mit einem Seitenblick einen Lastkahn auf der Elde fest, der Getreide geladen haben könnte und von einem Dampfschiff gezogen wurde. Und in Krakow am See, von Bahngleisen durchteilt, fotografierte er den schwarzen Rauch einer Lokomotive, der über den Dächern der Kleinstadt aufstieg. Es ist in erster Linie jedoch der liebevolle Blick des fotografierenden Zeitzeugen auf die Menschen und deren angestammte Heimat, der uns Betrachter heute staunen lässt. Wir schauen zurück aus einer Welt, welche von der Turbomodernisierung des Alltagslebens in einer Weise bedroht ist, die vor vier Generationen niemand hinter dem blauen mecklenburgischen Horizont sehen oder auch nur erahnen konnte.

Der Fotograf Karl Eschenburg
Das alte Mecklenburg ist im Rostocker Hinstorff Verlag erschienen. Die Hardcover-Ausgabe enthält  205 s/w-Fotos und kostet 29,99 Euro.
Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung des ©Hinstorff Verlages

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Gottfried Timm, geboren und aufgewachsen in Mecklenburg, ehemaliger Pastor und Innenminister in MV, SPD – Mitglied, engagiert sich für den Klimaschutz, ist leidenschaftlich gern auf dem Wasser, lebt in Schwerin.
 

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