Til Rohgalf richtet in dieser Reihe den Kulturkompass-MV auf ungewöhnliche Komponist*innen aus dem Ostseeraum. In loser Folge stellt er nordeuropäische Tonschöpfer*innen und ihre Werke vor. Musik des 20. und 21. Jahrhunderts steht im Mittelpunkt seiner musikalischen Kreuzfahrt. Allen ist gemeinsam, dass sie aus Anrainerstaaten des Mare Baltikum wie etwa Schweden, Finnland, Polen, Litauen oder Lettland stammen. Manche von ihnen gelten bereits als wichtige Vertreter*innen der Gegenwartsmusik ihrer Heimatländer. Andere genießen, genossen dagegen weniger Aufmerksamkeit oder sind unbekannt. Den Anfang macht Til Rohgalf mit Kompositionen des Komponisten Pēteris Vasks, interpretiert vom Pianisten Reinis Zariņš.
Folge I: Pēteris Vasks
Pēteris Vasks (* 1946 im lettischen Aizpute) ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten seines Heimatlandes. Schon seit 1989 als freischaffender Komponist in Riga tätig, erhielt er bereits viele nationale wie internationale Auszeichnungen – darunter den Großen Musikpreis Lettlands, den Staatlichen Kulturpreis und zuletzt 2022 den Preis der europäischen Kirchenmusik. Seit 2006 trägt sogar ein Asteroid den Namen „Vasks”.
Auf dem Album „Piano Works“ sind die Werke „Cycle I–IV“ und „The Seasons No. 1– 4“ in einer Einspielung des lettischen Pianisten Reinis Zariņš (*1985) zu hören. Zariņš kehrte nach seinem Studium an der Yale University und der London Royal Academy of Music in seine Heimat zurück. Für seine Studioaufnahmen interpretierte er neben Vasks auch andere, vorrangig lettische Komponist*innen.
Den Einstieg in „Piano Works“ bildet das eigens für Zariņš während der Corona-Pandemie geschriebene Stück „Cuckoo’s Voice“. Das Werk beginnt zaghaft und leise. Es baut sich langsam auf zu einem fast hymnenhaften Höhepunkt. Das 12-minütige Stück trägt auch den Zusatz „Spring Elegy” und eröffnet den thematischen Schwerpunkt der Veröffentlichung.
Denn auch die beiden Stücke „Cycle“ und „The Seasons“ behandeln den Lebenszyklus von Geburt, Jugend, Reife und Tod. Die musikalische Auseinandersetzung mit universellen Themen ist eine besondere Fähigkeit Vasks‘. „Cycle“, Vasks 1976 geschriebenes, erstes längeres Klavierwerk, lässt in den vier Sätzen durch große Kontraste aufhorchen. Extreme Wechsel in Tempi, Dynamiken und Klangfarben bauen eine tragende Spannung auf. Erweiterte Spieltechniken wie das Abdämpfen und manuelle Anschlagen von Klaviersaiten expandieren das Klangspektrum. Der „Epilog“ endet schließlich abrupt mit einem unheilvollen Grollen der tiefsten, offenbar direkt mit einem Schlägel angeschlagenen Klaviersaiten.
Das darauf folgende Stück „The Seasons“ nähert sich dem Lebenszyklus unter Verwendung der Jahreszeiten-Metapher auf poetischere, filigranere und meditativere Weise. Auch hier nutzt Vasks das weite Tonspektrum des Klaviers. Tonalität ist ein leitendes Element. Vasks nutzt Dissonanzen, um Spannung und Unruhe zu erzeugen, die in sanften Harmonien aufgelöst werden. Er kontrastiert sehr ruhige, zarte Abschnitte mit plötzlichen, kraftvollen und dynamischen Momenten. Wiederkehrende Motive und filigrane Variationen heben den meditativen Charakter der Musik hervor. Es entsteht ein sehr narrativer Höreindruck.
Hervorzuheben sind insbesondere die beiden Stücke „Seasons No. 1, White Scenery“ und „Seasons No. 2, Spring Music“. Ersteres lässt beim Hören die Poesie der weiten, verschneiten baltischen Landschaft vor dem inneren Auge in einzigartiger Weise entstehen. „Spring Music“ dagegen zeichnet durch den Einsatz starker dynamischer und melodischer Kontraste in knapp 20 Minuten den Frühling, beginnend mit der ersten zarten Knospe, bis zur vor Leben pulsierenden Natur poetisch nach.
Der Pianist Reinis Zariņš interpretiert Vasks Werke äußerst sensibel und mit einem scheinbar intuitiven Verständnis. Die Produktion sorgt für einen klaren, warmen Sound, der die leisen und filigranen Aspekte wie die dynamischen Ausbrüche der Musik zu einem organischen Hörerlebnis macht.
Die CD „Piano Works“ ist 2022 beim finnischen CD Label Ondine erschienen. (Titelfoto: CD Cover)